Meiner Schwester Irmgard
in Dankbarkeit
gewidmet
Teil I
Die Russen kommen…
Die ersten Erinnerungen Tinas an ihre Kindheit sind lärmende Geräusche, die ihr Angst machen. Alle sind aufgeregt. Ihre älteren 3 Schwestern und ihre Mutter flüstern leise miteinander. Ihre kleinen Hände umkrampfen angstvoll die Kanten des Fußendes ihres Kinderbettchens. Es ist dunkel, es ist Nacht. Das Geräusch von dumpfem Hämmern an die Korridortür lässt nicht nach. Die Mutter hält den Zeigefinger vor den Mund und versucht, die Kinder zu beruhigen. „Seid ganz still, die Russen sind da, ich muss sie reinlassen, sonst schlagen sie mit ihren Gewehrkolben unsere Tür kaputt und dann wird es kalt in der Wohnung. Bleibt ganz ruhig, ich werde gleich zurückkommen.“ Dann verlässt sie leise das Schlafzimmer und schließt behutsam die Tür hinter sich.
Danach hört man sie rufen: „Ja, ja, ich komme ja schon.“ Sofort verstummt das dumpfe Hämmern und mehrere fremde und laute Männerstimmen sind zu hören. Tinas Hände umklammern noch immer die Bettkante, als Irma, die älteste der Geschwister, sich im Dunkeln zu ihr ans Bett herantastet. „Hab keine Angst, Tina“, wispert sie beruhigend. Doch Tina hat Angst, sie fühlt ihr kleines Herz schlagen und möchte weinen. Doch noch mehr hat sie Angst, dass man ihr Weinen im Korridor hören könnte. Irma legt ihre Arme fest um die kleine Tina. Die anderen beiden Geschwister scheinen sich nicht zu fürchten. Sie kichern unter der Bettdecke und spielen im Dunkeln Gespenster. Ihr gedämpftes Lachen ist dennoch zu hören. „Mutti hat gesagt, ihr sollt leise sein!“ ermahnt Irma die beiden. „Sonst kommen die Russen hier rein und fressen euch auf!“ droht sie nun. Das Gekicher von Gilla und Hella hört sofort auf und Tinas Angst wird im so größer.
Irma öffnet vorsichtig die Tür, durch den Spalt dringt Licht in das Zimmer und wirft beängstigende Schatten an die Zimmerdecke. Die Männerstimmen scheinen leiser geworden zu sein. „Mutti“, ruft Irma leise in den Korridor, doch es kommt keine Antwort. Vorsichtig schließt sie wieder die Tür. Tina müsste nun dringend aufs Töpfchen, aber das steht unter ihrem Bett und das schützende Gitter ihres Bettchens zu verlassen, fehlt ihr der Mut. „Leg dich wieder hin und deck dich zu. Ich bleibe an der Tür und lasse niemanden herein“, versucht Irma sie zu beruhigen. Diese Worte sind wie eine Erlösung und sie legt sich hin. Die Straßenlaterne vor den Fenstern des Schlafzimmers wirft nur spärliches Licht durch die geschlossenen Fensterläden ins Zimmer. Die Bettdecke zieht sie sich über den Kopf, doch so wird es noch dunkler und mit der Dunkelheit kommt auch die Angst zurück. Sie steckt den Kopf schnell wieder hervor und beschließt wach zu bleiben. Aber irgendwann ist sie doch eingeschlafen.
Es ist Morgen. Hell und sonnig ist es im Zimmer. Tina schaut durch die Gitterstäbe ihres Bettes und sieht ihre 3 Schwestern und die Mutter gemeinsam im großen Ehebett liegen. Als sie zu ihnen klettern will, fühlt sie, wie ihr Nachthemd feucht an den Beinen klebt. Also beschließt sie liegen zu bleiben. Dennoch ist sie froh, dass es hell ist. Im Korridor ist alles still. Noch schlafen die anderen und so stellt sie sich auch schlafend. Eine neue Angst beschleicht sie. Was werden ihre 3 Schwestern dazu sagen, wenn sie ihr
nasses Bettzeug sehen.
Tina ist immerhin schon fast 5 Jahre alt.
Als die anderen nacheinander wach werden, hört sie die Mutter erzählen: „Die Russen haben euren Vater gesucht, aber ich habe ihnen nur das Foto von ihm zeigen können und gesagt, sie sollten in Russland nach ihm suchen und ihn nach Hause schicken zu seinen Kindern. Und als sie eure Fotos sahen, haben sie nicht weiter die Wohnung durchsucht und sind gegangen, aber sie würden wiederkommen, haben sie mir angedroht!“ Tina wollte fragen, ob sie dann den Vati mitbringen würden, doch sie traute sich nicht zu fragen, weil die Schwestern noch im Zimmer waren und merken würden, dass ihr Bettzeug nass ist.
Nach kurzer Zeit stand einer nach dem anderen auf, die Sonne schien ins Schlafzimmer und zeichnete helle Streifen an die Zimmerdecke. Leise schiebt die Mutter nacheinander die Gardinen vor den geschlossenen Fenstern beiseite, um die dunkelgrünen Fensterläden zu öffnen. Tina bemerkte die herein strömende Helligkeit sogar durch die fest zusammen gekniffenen Augenlider. „Macht leise, Tina schläft noch.“ flüsterte die Mutter. Zuerst verlässt die Mutter das Schlafzimmer. Kurz darauf poltern Gilla und Hella hinterher. Nur Irma ist noch im Schlafzimmer. Dann hört Tina sie leise an ihr Bett kommen. Sie hält den Atem an. „Guten Morgen, Tina, beim Schlafen musst du Luft holen, sonst erstickst du“, meint sie lachend und will ihr die Bettdecke wegziehen. Aber Tina rührt sich nicht und hält ihre Decke krampfhaft fest. „Was ist mit dir?“ fragt Irma nun eindringlicher. „Mein Bett ist nass.“ flüstert Tina zurück. Einen Moment ist es still, dann beugt sich Irma über sie, fasst sie bei der Hand und sagt: „Komm raus, das bringen wir gleich in Ordnung.“ „Sag es nicht den anderen, die lachen mich sonst aus.“ „Aber klar doch. Keine Bange, wir bringen alles ins Badezimmer und beziehen alles wieder frisch.“ verspricht Irma ihr. Tina ist erleichtert und klettert über die Gitterstäbe. Dabei hindert sie das an den Beinen klebende nasse Nachthemd und sie purzelt kopfüber aus dem Bett. Mit dem Kopf schlägt sie auf der Bettkante des gegenüberstehenden großen Bettes auf. Es schmerzt fürchterlich, aber wieder unterdrückt sie angstvoll das Weinen, aus Furcht, ihre beiden Schwestern könnten kommen um zu sehen, was passiert sei. Und dann wäre alles nur noch viel schlimmer. Im Nu bildet sich eine große Beule auf der rechten Seite ihrer Stirn. „Schnell, press deinen Kopf gegen die kalte Scheibe des Spiegels!“ ruft Irma aufgeregt. Als Tina das tun will, sieht sie im Spiegel die riesige Beule und erschrickt. Ihr Gesicht verzieht sich abermals zum Weinen, doch in letzter Sekunde gelingt es ihr auch dieses Mal aus Furcht vor dem Spott das Weinen zu unterdrücken.
Beim Frühstück bemerkt keiner die Beule, ihr noch ungekämmtes langes Haar hängt in leichten Locken um ihren Kopf und bedeckt ihre Stirn. Das schützt sie vor neugierigen Fragen. Und Irma schweigt. Tina ist ihr dankbar. Dann reden alle über die vergangene Nacht und die Russen. Die Mutter meint ärgerlich: „Wenn das so weiter geht, müssen wir uns bald eine neue Korridortür kaufen. Ich hoffe, sie kommen nie wieder!“ Und obwohl sie alle noch nie in der Kirche waren um zu beten, bittet sie Gott, es zu verhüten, dass die Russen noch einmal des Nachts an die Tür hämmern.
Tina hat da so ihre Zweifel, ob er das verhüten kann. Sie hatte jeden Abend vor dem Einschlafen zu ihm gebetet, er möge ihren Vater aus Russland, von wo er nach dem Kriege nicht zurück gekehrt war, gesund nach Hause kommen lassen. Sie hatte ihn doch noch nie gesehen, ihren Vati. Sie war noch ein Baby, als er in den Krieg musste. Stattdessen waren nur die Russen gekommen, ohne ihren Vati. Sie hatte den lieben Gott doch so oft gebeten, aber er hatte es wohl nicht gehört. Und sie hätte ihren Vater eben so oft um Hilfe bitten können, nämlich immer dann, wenn ihre beiden Schwestern Gilla und Hella sie nicht in Ruhe ließen. Doch die Beiden bestritten, dass der Vater ihr geholfen hätte und behaupteten, er würde Tina eine Petze nennen, weil beide wussten, dass Tina dieses Wort überhaupt nicht mochte. Doch einen Trumpf hatte Tina gegen alle Argumente ihrer beiden Schwestern. Den behielt sie sich immer für äußerst kritische Situationen auf, um ihre Schwestern zu ärgern. Wenn die beiden sie ganz fürchterlich gehänselt hatten, steckte sie ihnen die Zunge heraus, verdrehte die Augen, stellte die gespreizten Finger hinter ihren Ohren auf und rief: "Ätsch, ich bin mehr als ihr vom Vati, er heißt Martin und ich bin Martina!" Dabei zog sie das letzte a in ihrem Namen triumphierend in die Länge, um so den Genuss ihrer Überlegenheit noch ein wenig länger auskosten zu können. Dagegen hatten ihre Schwestern kein Argument und wurden still.
Am gleichen Tage noch hätte sie gern die Hilfe ihres Vaters in Anspruch genommen. Ihre beiden Schwestern hatten inzwischen das nasse Bettzeug in der Badewanne entdeckt. „Liese pinkelt auf die Wiese, Liese ist nicht nett, die pullert noch ins Bett!“ riefen sie und erklärten ihr, dass Liese der Name für eine Ziege sei. Tina fing nun doch an zu weinen, aber ihre Tränen nützten ihr nichts, im Gegenteil: „Heulsuse, Heulsuse“ hieß sie nun. Als Tina ihnen drohte, alles der Mutter zu erzählen, riefen sie ihr das Wort nach, das Tina am meisten hasste. „Petz-Liese!“ Das war selbst Irma zu viel. Sie drohte den beiden eine Ohrfeige an. Irma war die Älteste der Geschwister und einen Kopf größer, als ihre beiden Schwestern und sie vertrat sozusagen Vaters Stelle in der Familie, wenn die Mutter nicht anwesend war. Sie also konnte und durfte den beiden eine Ohrfeige geben. Aber sie ließen es soweit gar nicht erst kommen, was Tina oft genug bedauerte. „Wir haben doch nur Spaß gemacht.“ lenkten sie rechtzeitig ein. Leider fragte niemand, ob Tina das witzig fand. Das stand nicht zur Debatte. Aber mindestens hatte sie danach wieder eine Weile ihre Ruhe vor den Beiden.
Sie sann über Rache nach. Tina besaß keine eigene Puppe, nur einen kleinen schon etwas zerzausten braunen Teddy. Sein Fell war schon ein wenig abgenutzt, doch das machte ihr nichts aus, ihn schleppte sie überall mit hin und des Nachts konnte sie ohne ihn nicht einschlafen. Sie wünschte sich dennoch eine Puppe, denn die trug Kleider, die man an- und ausziehen konnte. Ein Teddy mit Kleidern aber war undenkbar. Den konnte man höchstens bürsten, aber selbst das war schon zu viel, denn immer blieben in der Bürste einige Fusseln seines Felles hängen und er sah nach dem Bürsten keineswegs besser aus als
zuvor. Die Mutter aber hatte nie genügend Geld, um auch ihr eine Puppe zu kaufen.
Also war ihre einzige Rache bisher, heimlich mit den Puppen von Gilla und Hella zu spielen. Das mochten ihre Schwestern überhaupt nicht und hatten es ihr strikt verboten. Aber sie hatte dazu fast täglich ausgiebig Zeit, während die beiden Schwestern in der Schule waren. Wenn ihre Mutter mit dem Mittagessen fertig war, wusste Tina, dass sie die Puppen nun ordentlich wieder aufs Bett setzen musste, denn dann dauerte es nicht mehr lange, bis ihre Schwestern nach Hause kamen. Und wenn es dann an der Korridortür klingelte und sie durch den Briefkastenschlitz Gilla und Hella warten sah, ließ sie die beiden Schwestern noch ein wenig zappeln, bevor sie ihnen endlich die Tür öffnete. Eigentlich freute sie sich ja, wenn ihre Schwestern nach Hause kamen, denn sie liebte sie und mit ihnen war es nie langweilig, aber noch mehr freute sie sich, wenn sie früh zur Schule gingen.
Wochen zuvor hatte sie sich schon einmal eine viel bessere Rache einfallen lassen, und hatte sie auch ausgeführt. Als ihre beiden Schwestern bei den Schulaufgaben saßen, war sie wie versehentlich an das kleine Tintenfass gestoßen, in welches beide beim Schreiben in kleinen Zeitabständen regelmäßig den Federhalter eintauchten. Alles hatte auch ganz wunderbar geklappt, das kleine Tintenfass war sofort umgekippt und diese wundervolle dunkelblaue Tinte ergoss sich über die soeben fertig gestellten Hausaufgaben. Aber leider nicht nur über die Hausaufgabenhefte, sondern auch über das Tischtuch. Ihre Schwestern starrten sie entgeistert an, dann schrieen sie laut kreischend nach der Mutter.
Und als diese das Unglück sah und sich angehört hatte, was Gilla wahrheitsgemäß dazu erzählte, bekam Tina eine schallende Ohrfeige. Tina verzog keine Miene dabei, irgendwie fühlte sie, dass sie die Ohrfeige verdient hatte, aber nur der Tischdecke wegen. Diese Rache war also nicht so ausgelaufen, wie sie es erhofft hatte. Aber die Tinte war ausgelaufen, immerhin. Und die Schwestern mussten alles noch einmal schreiben. Das war ihr die Ohrfeige wert. Doch es blieben ihr ja noch die Puppen. Und diese Rache war doch wenigstens für sie selbst angenehm, obwohl es ja keine richtige Rache war, weil ihre Schwestern ja nichts davon ahnten.
Stillschweigend nahm sie ein Bilderbuch und setzte sich in die Sofaecke. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete sie ihre beiden Schwestern, wie sie stöhnend und murrend ihre Hausaufgaben neu anfertigten. Sie sahen nicht ein einziges Mal zu ihr herüber und das war sehr ungewöhnlich. Tina blätterte und blätterte, sie hatte das Buch schon mehrmals angeschaut, doch kein Wort kam vom Tisch herüber. Ihr wurde langweilig. Ihre Schwestern hielten die Köpfe über die Hefte gebeugt und schrieben. Die Stille im Zimmer erschien sogar der Mutter verdächtig und so kam sie mehrmals, um nach dem Rechten zu schauen.
Tina zog jedes Mal unwillkürlich den Kopf ein, wenn die Tür aufging, so, als würde sie sich vor einer erneuten Ohrfeige fürchten. Die Mutter aber sah sie nur streng an – das ärgerte sie zwar ein wenig, doch es tat nicht weh. Sie dachte an ihren Vati und war überzeugt, wäre er da gewesen, hätte Tina eine eigen Puppe und ihre Schwestern würden sich außerdem nicht trauen, sie zu hänseln und so hätte sie nicht an das Tintenfässchen stoßen brauchen und niemals eine Ohrfeige bekommen. Und vielleicht hätte er ihr aus dem Buch vorgelesen. Sie war einfach nur traurig. Sie lief ins Schlafzimmer, holte ihren Teddy aus dem Bett und ging zurück ins Wohnzimmer. Leise flüsternd begann sie sich mit ihm zu unterhalten und ihm die Bilder aus dem Buch zu erklären. Noch immer schwiegen ihre Schwestern. Doch neugierig schielten sie zu Tina hinüber. Sie verstanden das Geflüsterte nicht und das beunruhigte sie wohl irgendwie. Tina nahm die wiedererweckte Aufmerksamkeit ihrer beiden Schwestern mit Genugtuung wahr.
Als die beiden ihre Schulhefte und Bücher endlich in den Ranzen packten, beschloss Tina ein Friedensangebot zu machen. Sie bot an, sämtliche Buntstifte der Schwestern anzuspitzen. Sie nahmen das Friedensangebot an. Die gekringelten Späne der Stifte nämlich sammelte Tina in einer kleinen Schachtel. Die wollte sie Weihnachten der Mutter schenken, damit konnte man das Holz im Küchenherd leichter anzünden und Mutter verbrauchte nicht so viele Zündhölzer. Die Mutter würde sie dafür bestimmt loben und die verdorbene Tischdecke vergessen, hoffte Tina.
Oma war zu Besuch da.
Sie kam immer ohne Opa. Sie sagte, dies sei ihr Urlaub vom Opa. Meist blieb sie eine ganze Woche. Sie achtete freundlich aber mit Bestimmtheit darauf, dass Tinas Zöpfe immer ordentlich gekämmt waren. Das tat zwar die Mutter sonst auch, aber bei Oma ziepte es fast nie. Darum mochte Tina ihre Oma. Ob die Oma Tina mochte, fand sie nicht heraus, denn wenn Tina bei ihr zu Besuch war, und das war selten, hatte Oma immer andere Enkelkinder auf dem Schoß und für Tina kaum Zeit, weil Tina ja schon zu groß dafür sei. Tina fand das nicht, doch das zählte nicht. Doch nun war Oma hier – und da war sie die Kleine. Und Oma hatte Zeit. Wenn Tina hinunter in den Hof zum Spielen ging, war sie nicht mehr so allein. Am Liebsten spielte Tina „Ball werfen“. Der Ball durfte nicht herunterfallen beim gegenseitigen Zuwerfen. Fiel er herunter, musste man auf einem Bein durch den Hof hüpfen ohne umzufallen, bis der andere „Stopp!“ rief. Das konnte anstrengend sein und endete meist mit einem blutigen Knie, wenn sie mit ihren Schwestern spielte. Das Hüpfen auf einem Bein lehnte Oma von vornherein ab – aber Tina war großzügig und nickte zustimmend, obwohl sie es lustig gefunden hätte, Oma mit ihrem langen dunklen Kleid einmal hüpfen zu sehen. Sie warf den Ball geschickt Oma direkt in die Arme, aber Oma hatte immer Angst um ihre Brille und wenn der Ball angeflogen kam, drehte sie den Kopf weg und der Ball fiel herab und rollte irgendwohin. Nach kurzer Zeit machte das keinen Spaß mehr, denn Tina musste dann dem rollenden Ball nachrennen und Oma stand nur herum. Also warf Tina schließlich den Ball lieber gegen die Wand und fing ihn selber wieder auf. Dazu allerdings brauchte sie wieder ihre Oma nicht, aber das sagte sie ihr nicht.
Oma war immer darauf bedacht, dass Tina nichts passierte. Sie hatte deshalb zu Tina gesagt, sie solle die Treppe im Treppenhaus nur auf der Seite hinuntersteigen, an welcher diese am breitesten war. Das sei sicherer, meinte sie. Man könne da nicht so leicht abrutschen. Doch Tina glaubte ihr das nicht. Für sie nämlich war das viel beschwerlicher. Sie war gewohnt, auf der Seite hinauf und hinunter zu gehen, wo die Stufen am schmalsten sich um das nach unten führende Geländer wanden. Als Tina allein in den Hof hinunter ging, benutzte sie gewohnheitsgemäß die schmale Treppenseite der halbkreisförmig nach unten führenden Steintreppe. Sie hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest, während sie mit der anderen den Ball an sich presste, damit er nicht vor ihr die Treppe hinunter hüpfte.
Plötzlich rief vom oberen Treppenabsatz Oma hinter ihr her: „Tiiiiina, du sollst doch nicht auf der gefährlichen Seite runter gehen!“ Erschrocken sah sich Tina um, dabei muss sie wohl das Geländer losgelassen haben, denn plötzlich verfehlten ihre kleinen Füße die nächste Stufe und sie stürzte kopfüber in die Tiefe. Sie hörte noch den spitzen Schrei ihrer Oma, dann war es dunkel.
Als es wieder hell um Tina wurde, hatte sie eine mächtige Beule auf der Stirn und ihr Fuß tat schrecklich weh. Sie lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie wunderte sich darüber, denn sie wusste nicht, wie sie da hingekommen war. Die Mutter stand neben Oma und beide sahen auf sie herab – immerhin voller Sorge, stellte Tina befriedigt fest. „Wie um Himmels willen ist das denn passiert?“ fragte die Mutter. Und ehe Tina antworten konnte, sagte Oma in vorwurfsvollem Ton: „Ich habe ihr extra gesagt, sie soll auf den breiten Treppenstufen hinuntergehen, aber sie kann ja nicht hören. Und nun ist sie von den schmalen Stufen abgerutscht – ich hab es kommen sehen….“ Tina schwieg dazu, kein Wort kam über ihre Lippen. Sie verschwieg, dass der plötzliche Zuruf aus dem Hintergrund sie erschreckt und sie dabei das Geländer losgelassen hatte, um sich nach Oma umzusehen und dabei von den Stufen gestürzt war.
Sie hasste es, eine Petze zu sein. Woher sollte Oma auch wissen, dass sie mindestens fünfmal täglich auf dieser Treppenseite hoch- und runter gesprungen war, ohne auch nur ein einziges Mal eine Stufe zu verfehlen. Es wunderte sie nur, dass ihre Oma auch ein bisschen schwindelte. Deshalb verzieh sie ihr und zwinkerte ein wenig zur Oma, die aber zuckte nur mit den Achseln und legte ihr einen kühlen Umschlag so auf die Stirn, dass Tinas Augen bedeckt waren.
Am Rande der Stadt hatten sie einen Garten. Dort wurden im Frühjahr Gemüse wie Zwiebeln, Tomaten, Bohnen, Möhren und Erbsen, aber auch Erdbeeren und Kartoffeln angepflanzt. Die im Winter übrig gebliebenen kleinen Kartoffeln wurden zuvor daheim aus dem Keller geholt und in einer Kiste auf dem kleinen Handwagen zum Garten transportiert. Dort wurden sie in den Boden eingelegt und Tina durfte mit der Schaufel die Kartoffeln wieder mit Erde bedecken. Das machte ihr Spaß, es war wie im Sandkasten buddeln, nur – dass es nützlicher war als im Sandkasten buddeln.
Darauf war sie stolz und sie wusste, ihr Vati würde auch stolz auf sie sein, dass sie schon half, die Familie zu versorgen. Später, wenn das Gemüse und die Kartoffeln geerntet wurden, musste man alles mit dem Handwagen wieder zurück in den Keller transportieren, um im Winter genügend zu Essen zu haben. Das Obst wurde in Gläser als Kompott für den Winter eingekocht.
Der Weg zum Garten führte an einem riesigen alten Gebäude vorbei mit vergitterten Fenstern, welches von hohen Mauern und einem eisernen Zaun mit gefährlichen Spitzen umgeben war.
Es war das Amtsgericht, in welchem sonst die Verbrecher saßen, hatte die Mutter erklärt. In diesem wohnten jetzt die Russen. Die Mutter sagte immer, sie hausen dort, das lag wohl daran, dass sie mehr im Haus als draußen waren. Genau konnte sich Tina das Wort nicht erklären und wenn sie die Mutter danach fragte, winkte die nur ab und schwieg. Sie hatte den Kindern befohlen, immer die andere Straßenseite zu benutzen, wenn sie dort vorbei mussten. Und nicht einmal hinüber sehen sollten sie. Doch Tina fand es spannend und sie war neugierig. Also blickte sie aus gehöriger Entfernung doch öfter hinüber. Da standen sie, die Russen. Sie winkten ihr freundlich zu und hielten Äpfel durch die Gitterstäbe. Sie hätte nur hinüber laufen müssen, die Äpfel waren verlockend, doch die Angst in ihr war stärker und hielt sie zurück. Doch was sie beim Hinüberschauen noch entdeckte, war noch viel beeindruckender als die Russen und die Äpfel.
Neben dem geöffneten großen Eisentor sah sie einen riesigen Haufen Mist. Wie Mist aussah, wusste sie genau, denn sie hatten ja den Kaninchenstall im Hof. Ihr Herz schlug vor Freude ganz wild. Sie rannte zurück nach Hause. Dort angekommen hüpfte sie ungeduldig von einem Bein auf das andere, bis ihre Mutter endlich die Korridortür öffnete. „Mutti, Mutti, ich weiß jetzt, wo mein Vati ist, er ist ganz nah bei uns, sicher kommt er bald nach Hause. Komm mit, schnell, ganz schnell. Ich zeige es dir. Ich habe den großen Misthaufen bei den Russen gesehen, wo der Vati drunter liegt. Die Russen sind freundlich, sie wollten mir Äpfel schenken, ich werde sie fragen, ob sie mir nicht lieber den Vati zurückgeben, ja Mutti?“ Doch Tinas Mutter blickte sie nur traurig an und zog sie zu sich heran. Sie strich ihr übers Haar und begann leise zu fragen: „Tina, wie kommst du nur darauf?“ „Ja, aber ihr habt doch immer gesagt, dass Vati bei den Russen vermistet ist! Und nun habe ich gesehen, wo das ist. Mutti, es ist nur über die Straße.“ Die Mutter setzte sich auf einen Stuhl und wischte sich die Tränen mit der Schürze vom Gesicht. Mit noch immer ganz leiser Stimme antwortete sie: „Tina, das heißt nicht vermistet, sondern vermisst. Und vermisst sein bedeutet, dass keiner weiß, ob er tot ist oder noch lebt. Und weil nun schon fast 5 Jahre vergangen sind und er sich nicht gemeldet hat, glaube ich, dass er tot ist und nie mehr zurückkommen wird aus diesem verdammten Krieg. Nur Gott allein weiß, wo er ist.“
Dass Gott keine Antworten gab, wusste Tina schon. Zu oft hatte sie ihn schon nach ihrem Vati gefragt. Ihre Fröhlichkeit war vorbei. Sie hatte zum ersten Mal gehört, dass ihr Vati vielleicht sogar tot sei. Und was tot sein bedeutet, das kannte sie von den Kaninchen im Hasenstall. Wenn Kaninchen tot sind, sind sie kalt und steif und man zieht ihnen das Fell ab und bringt es fort und bekommt dafür Feuerholz oder Kartoffeln und das Fleisch kann man als Braten zu Weihnachten essen. Nie mehr hatte sie seitdem je wieder Hasenfleisch gegessen. Irgendwie konnte sie keinen Bissen mehr hinunter bekommen, ganz gleich, wie lecker es duftete.
Die Russen kamen wieder. Diesmal hatten sie nicht mit den Gewehrkolben an die Korridortür geschlagen, diesmal hatten sie geklingelt. Das heißt, eigentlich war es nur ein einzelner Russe und er sprach sogar deutsch. Die Mutter hatte vorher, so wie Tina manchmal, durch den Briefkastenschlitz geschaut. Danach war sie leise ins Schlafzimmer gekommen und hatte mit der ältesten der Geschwister flüsternd etwas besprochen. Nach dem zweiten Klingeln schloss sie behutsam die Schlafzimmertür und öffnete danach die Korridortür und ließ den Russen herein. Er macht auch überhaupt keinen Krawall im Korridor. Man konnte nicht einmal seine Stimme hören.
Inzwischen hatte Irma den jüngeren Geschwistern die Lage erklärt. Mutter wollte nicht, dass der Russe böse wurde und so hatte sie ihn in das Wohnzimmer gebeten. Die 3 Schwestern hatten die Aufgabe, eine nach der anderen in Abständen von ein paar Minuten in die Wohnstube zu kommen. Außer Irma selbst, sie war damals 15 Jahre, sie durfte nicht – aber warum Irma nicht auch in die Wohnstube gehen sollte, verstand Tina nicht. Tina wusste, Irma war immerhin die Mutigste von allen.
Also zogen sie nacheinander lost, zuerst Hella. Sie musste die Mutter um Tee bitten, weil sie Bauchschmerzen habe – was nicht stimmte, aber das gehörte zum Plan. Nach wenigen Minuten zog Gilla los und sie hielt sich wimmernd ein Ohr mit der Hand zu und klagte über Ohrenschmerzen. Mutter steckte die Rotlichtlampe an und Gilla durfte 5 Minuten in der Wohnstube bleiben. Als Gilla ewig nicht zurück kam, musste Tina los. Tina war als Letzte an der Reihe und sollte über Zahnschmerzen klagen, denn sie hatte noch nicht alle Backenzähne und somit war das glaubhaft. Sie fürchtete sich im dunklen Korridor. Da war sie schon lieber im hellen Wohnzimmer mit einem Russen und ihrer Mutter. Also zog sie mutig los. Als sie eben die Tür öffnen wollte, ging diese von innen auf und die Türklinke traf sie genau am Kopf, und zwar exakt an der Stirn. Gilla hatte gerade das Wohnzimmer verlassen wollen. Tina fing fürchterlich an zu schreien. Daraufhin kam Hella und Irma aus dem Schlafzimmer gerannt und ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Die Mutter flüsterte ihr ins Ohr: „Das machst du gut, schreie weiter!“ Das hätte sie ihr nicht sagen brauchen, denn die Beule schmerzte fürchterlich.
Kurz darauf verließ auch der Russe das Wohnzimmer, und nicht nur das, er verließ auch den Korridor und die Mutter atmete erleichtert auf, nachdem sie die Tür hinter ihm verschlossen hatte. Sie schien sehr froh darüber zu sein. Und Tina hatte eine Beule. Der Russe hatte danach nie wieder an der Tür geklingelt. Mutter befahl den Kindern, sie sollten sich dafür beim lieben Gott bedanken. Das taten sie auch. Nur Tina wollte nicht so recht, doch die Mutter bestand darauf. Als sich Tina endlich überwand, flüsterte sie nach dem Dankesgebet noch hinzu: „Lieber Gott, aber warum hab ich dafür eine Beule bekommen?“ Die Antwort blieb er ihr auch diesmal schuldig.
Weil Tina noch nicht zur Schule ging, konnte sie noch nicht lesen. Aber sie liebte Bücher. Im Arbeitszimmer ihres Vaters stand neben dem Schreibtisch ein Bücherschrank voller Bücher. Durch die verschlossene Glastür konnte sie die Einbände der Bücher sehen. Viele waren mit goldenen Buchstaben beschriftet und diese glitzerten, wenn das Licht darauf fiel.
Das gefiel ihr ganz besonders. Der Schrank war verschlossen, doch sie wusste, dass der Schlüssel oben auf dem Schrank lag. Auch auf den Fußspitzen auf einem Stuhl stehend erreichte sie den Schlüssel trotzdem nicht. Auf die Armlehne zu klettern wagte sie nicht, sie fürchtete eine neue Beule, die alte schmerzte noch. Dann aber hatte sie eine Idee, die folgenreich war. Sie drückte sacht mit beiden Händen gegen die Scheiben und wie durch ein Wunder ging die Schranktür wie von selbst auf. Sie konnte sich das nicht erklären und nach einigem Überlegen fiel ihr die Beule ein. Sie deutete es als Trost vom lieben Gott, der ihr wohl die ungerechtfertigte Beule wegen dem Russen vergessen machen wollte. Von da an bat sie häufiger den lieben Gott, aber es blieb bei dieser einzigen Ausnahme. Er hatte wohl wichtigeres zu tun. Vorsichtig also öffnete sie die Tür noch ein wenig weiter und zog sich ein Buch heraus. Bilder gab es keine darin, aber das war nicht so wichtig, denn sie kannte schon einige Buchstaben, nämlich die, die in ihrem Namen enthalten waren, und so suchte sie danach und begann zu lesen: …..in………in……..in…. so viele Male stand dieses Wort auf den ersten Seite, dass es sie nicht mehr interessierte, ob es auf den anderen Seiten auch so oft stand. Dann schob sie das Buch zurück zwischen die anderen, drückte die Tür wieder zu und flüsterte leise vor sich hin: „Danke lieber Gott, dass ich diesmal keine Beule bekommen habe.“
Die holte sie sich bei einer ganz anderen Gelegenheit. Da der lange Korridor als einziger Raum der Wohnung kein Fenster nach außen hatte, war es dort immer ziemlich dunkel. Trotzdem spielte sie gern im Korridor. Er war zwar schmal, aber sehr lang. Da konnte sie mit dem Puppenbett lang sausen, das hatte nämlich kleine Räder. Sie setzte sich hinein und stieß sich mit den Beinen ab. Als es nun immer dunkler im Korridor wurde, rief die Mutter aus der Küche: „Tina, mach dir doch Licht.“ Mutter hatte wohl vergessen, dass sie nicht an den Lichtschalter herankam. Also kletterte Tina auf die Wäschetruhe, die ein wenig seitlich unter dem Lichtschalter an der Wand stand. Sie musste sich nur ganz an die Kante der Truhe stellen, um den Schalter zu erreichen. Die Nase presste sie dabei an die Wand und noch nach Jahren konnte sie sich an die ziegelrote Tapete vor ihren Augen erinnern, die das letzte war, was sie sah, bevor die Wäschetruhe kippte und Tina zu Boden stürzte. Die Beule trug sie an der gleichen Stelle davon, wie jedes Mal zuvor. Das mag der Grund sein, dass man die Beule noch immer auf ihrer Stirn sehen kann.
Irgendjemand hatte bemerkt, dass sie beim Bilderbuch anschauen die Nase fast auf dem Buch hatte. Tina braucht eine Brille, hieß es. Zuerst freute sie sich darüber, denn auch ihr Vater trug auf allen Fotos, die in der Wohnung aufgestellt waren, eine Brille. Sofort stand für sie fest, dass das ihr Vater gemacht hat, damit sie ihm ähnlich sei. Sie konnte es kaum erwarten, bis ihre Mutter mit ihr endlich zum Augenarzt ging. Der wohnte in einer riesigen Villa. Die Praxis war aber unten im Keller, so dass sie von dem wunderschönen Haus nicht viel zu sehen bekam. Der Arzt war riesengroß. Auch er trug eine Brille. Er war freundlich und gab ihr sogar die Hand. Und meist sprach er nur mit ihr. Darauf war sie mächtig stolz. Er gab ihr nach der Untersuchung das Rezept in die Hand und sagte: „Damit gehst du mit deiner Mutti zum Optiker und dort suchst du dir eine schöne Brille aus.“ Tina konnte es kaum erwarten, doch es dauerte noch einige Tage, bis es soweit war. Der Optiker hatte Urlaub in dieser für sie so wichtigen Zeit. Damit hatte sie in ihrer Vorfreude nicht gerechnet. Zuhause erzählte sie alles ihren Schwestern. Erst hörten Hella und Gilla wortlos zu, bis Gilla plötzlich fragte: „Weißt du, wie jemand heißt, der eine Brille trägt?“ Tina wusste es nicht, aber am Tonfall von Gillas Frage ahnte sie, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. „Brillenschlange! Brillenschlange!“ Tina staunte, das hatte sie wirklich noch nicht gewusst, aber sie konnte sich unter einer Brillenschlange nichts vorstellen und schwieg deshalb. Nun erzählten ihr die beiden Schwestern unter dauerndem Kichern, dass Brillenschlangen hässlich sind und sie also auch hässlich sein werde mit einer Brille.
Als Mutter endlich mit Tina zum Optiker gehen wollte, wollte Tina keine Brille mehr. Doch es war zu spät. Sie bekam sie trotzdem. Lesen konnte sie damit zwar nicht, dazu musste sie erst zur Schule gehen und es lernen. Und Bilder konnte sie auch nicht besser erkennen als zuvor. Die Mutter erklärte ihr, dass sie die Brille trotzdem tragen müsse, weil sie zur Korrektur der Augenstellung notwendig war. Es hieß, Tina schielte, wenn sie lange auf ein Buch sah. Das verstand Tina nicht. Sie konnte weder lesen noch besser sehen mit der Brille, nur hässlich war sie nun. Worin lag da der Sinn? Sie fragte ihre Mutter, ob die sie auch mit Brille noch liebe. Die Mutter sah sie erstaunt an und meinte kopfschüttelnd: „Ich liebe dich genau so wie vorher!“ Das beruhigte sie. Hauptsache war, die Mutter würde sie nicht weniger lieben als zuvor. Das Wort Brillenschlange schien die Mutter nicht zu kennen.
Die Sonnabende waren immer sehr gemütlich daheim. Jeden Sonnabend gab es am Nachmittag frisch gebrühten Malzkaffee und ebenso frischen Kuchen. Ihre Korridortür lag direkt neben der Korridortür der Bäckerfamilie, die ihre Wohnung und auch Geschäft und ihre Backstube im gleichen Hause hatten. Am zeitigen Nachmittag klingelte Petra, die kleine Tochter der Bäckersfrau, bei ihnen an der Tür und überbrachte ein Paket mit noch frischem Kuchen, der nach Ladenschluss übrig geblieben war. Aus der geöffneten Korridortür strömte ein verführerischer Duft von frischem Backwerk herüber, der für Tina viel besser war, als jeder Blumenduft. Die gleichaltrige Petra spielte selten mit ihr, meist spielte sie mit der Tochter eines hohen Beamten, der unweit von Tinas Wohnung eine Villa mit einem wunderschönen Garten mit weißen Bänken besaß. Doch Petra und Tina mochten sich trotzdem und das nicht nur wegen des wöchentlichen Kuchenpaketes. Petra trug stets eine weiße Schürze, sah deshalb immer sehr sauber aus und musste auch nie die Kaninchen füttern. Petra aber hätte diese allzugern einmal gefüttert, doch dann wäre ihre weiße Schürze unweigerlich schmutzig geworden. So tauschen sie ab und an Schürze gegen Hasen füttern und deshalb mochten sie sich.
Der Sommer war die schönste Zeit. Ihre Wohnung lag gleich gegenüber dem Freibad. Doch der Eintritt war für 4 Kinder zu teuer. Dass sie dennoch täglich baden gehen durften, lag am Einfallsreichtum von Irma:
Irma rollte die Decke unter den Arm und zog als erste los. Sie kaufte sich an der Kasse eine Eintrittskarte und marschierte geradewegs quer über die Liegewiese in Richtung Drahtzaun. Dort warteten nur mit dem Badeanzug bekleidet schon Hella, Gilla und Tina. Während Irma die große Decke dicht am Zaun zum Ausbreiten auf der Wiese verdächtig lange hoch hielt, krochen die 3 Schwestern unterm Drahtzaun durch, um sich anschließend mit unschuldiger Mine am Ausbreiten der Decke zu beteiligen. Nachdem sie sich ausgiebig im Wasser und an der Rutsche ausgetobt hatten, verließen sie erschöpft aber zufrieden und hungrig gemeinsam durch den Haupteingang das Freibad. Die Mutter erwartete sie täglich mit der gleichen Frage: "Und? Hat euch keiner erwischt?" Sie hatte wohl mehr Angst davor, als die Kinder. Sie wusste, es gehörte sich nicht, aber es den Kindern zu verbieten, brachte sie nicht übers Herz, denn den täglichen Eintritt hätte sie nicht bezahlen können.
Eines Tages saß ein fremder Mann in der Wohnstube, als Tina mit ihrer Schwester Irma aus dem Garten nach Hause kam. Er lächelte freundlich und gab jedem die Hand. Hella und Gilla saßen ungewöhnlich artig nebeneinander auf dem Sofa. Nur als Tina deshalb einmal ganz verwundert zu ihnen hinüber schaute, zogen sie heimlich eine Grimasse.
Ein paar Mal schlich Tina um den Tisch herum, bis sie mutig eine Frage stellte: „Bist du mein Vati?“
Gilla und Hella kicherten. Die Mutter drohte ihnen mit erhobenem Zeigefinger. Der freundliche Mann zog Tina zu sich heran und hob sie auf seine Knie. Tina freute sich und hoffte auf ein „Ja!“ Sie hatte ihm so viel zu erzählen. Sie würde ihm alles erzählen. Doch da hörte sie die Mutter sagen: „Das ist der Onkel Erich, er hat uns Zucker gebracht.“ Tina beschloss noch im gleichen Augenblick, ihn zu lieben, denn Zucker war ihre Lieblingsspeise. Damit schmeckte sogar die grässliche grüne Kartoffelsuppe, die die Mutter nur aus geriebenen Kartoffeln und Mehlschwitze zubereitete. Selbst die Kohlsuppe war mit Zucker fast genießbar.
Von diesem Tage an ging der Zuckervorrat nie mehr zur Neige. Hinter dem breiten Sessel im Wohnzimmer stand ein ganzer Sack voller hellgelbem und wohlschmeckendem Zucker. Aus ganz praktischen Gründen ließ Tina immer gleich einen Löffel obenauf liegen. Da brauchte sie nicht jedes Mal erst in die Küche deswegen. Der Zucker war die einzige Süßigkeit im Haushalt. Ab diesem Tag aß Tina alles was auf den Tisch kam, Hauptsache es war genügend Zucker darauf. Nur Kaninchenfleisch aß sie auch mit Zucker nicht.
„Wir ziehen um!“ verkündete eines Morgens beim Frühstück die Mutter. Die Geschwister sahen sich erstaunt an und dann mit dem gleichen erstaunten Gesicht zur Mutter. „Wir ziehen zu Onkel Erich!“ Es hörte sich so an, als wäre es ein Befehl. Und die Kinder erwiderten auch gar nichts.
Hella und Gilla weinten am Abend im Bett, Irma versuchte sie zu trösten. Doch es gelang ihr nicht. Sie wollten nicht weg. Es gefiel ihnen hier, wo sie ihre Freunde in der Nähe hatten. Doch Tina war es eigentlich egal. Sie war sogar ein wenig froh darüber, denn sie freute sich auf den riesigen Garten am Haus. Da musste sie nicht mehr an den Russen vorbei, wenn sie in den Garten wollte. Zwar hatte sie längst mit den Russen ihren Frieden geschlossen und heimlich, denn davon durfte jedoch die Mutter nichts wissen, Äpfel und Gebäck von den Russen angenommen und sogar ein Lied hatte sie von ihnen gelernt auf russisch, was sie heimlich den Puppen von Gilla und Hella vorsang. Aber ein eigener Apfelbaum im Garten war doch schon etwas ganz besonderes. Und die Äpfel durfte sie dann auch im Beisein der Mutter essen, so hoffte sie. Die Äpfel von den Russen musste sie immer heimlich essen. Die Mutter war nicht gut auf die Russen zu sprechen.
Ganz heimlich begannen nun auch ihre Geschwister zu beten:
„Ich bin noch klein,
mein Herz ist rein,
soll niemand drin wohnen,
als Vati allein.
Lieber Gott, wir sind noch klein,
doch schick endlich die Russen heim
und unsren Vati gleich zurück,
das wär’ für uns das höchste Glück.“
Tina sprach dieses Gebet mit Inbrunst, doch sie zweifelte, dass der liebe Gott sie hören würde. Und er erhörte sie auch nicht. Wie konnte er auch, denn Tina war sich sicher, viele würden ihre Wünsche zu ihm schicken. Aber er war ja auch nicht der Weihnachtsmann, der jedem zu Weihnachten einen Wunsch erfüllte. Und warum sollte der liebe Gott ausgerechnet ihre Wünsche erfüllen, er konnte ja nicht ahnen, wie wichtig es für sie war. Gilla und Hella würden nämlich dann nie mehr wagen, Tina im Beisein ihres Vatis eine Brillenschlange zu nennen, denn er trug ja auch eine Brille.
Dann zog die Familie um, für Tina war das der erste Umzug ihres Lebens. Tagelang herrschte Chaos in allen Zimmern der Wohnung. Sie selbst hatte ihre Habseligkeiten in einen Karton verstauen dürfen. In dem Durcheinander war nicht aufgefallen, dass sie das gerahmte Bild ihres Vatis vom Schreibtisch zwischen ihre Spielsachen gelegt hatte. Sie befürchtete, dass es dem Onkel Erich nicht gefallen würde, wenn es in seinem Haus irgendwo herum stand.
Sie zogen zu Onkel Erich, zu dem man nun Vater sagen musste. Am Tag des Umzuges halfen alle mit. Den neuen Vater hatten sie zuvor schon besucht. An seinem kleinen Haus war ein wunderschöner großer Garten mit riesigen Bäumen, eine großen Wiese und vielen Büschen, an denen rote und schwarze Beeren hingen. Nun hatten sie zwei Gärten, einen am Haus, und einen in der Nähe, zu dem man nun nicht mehr an den Russen vorbei musste. Der Garten bedeutete viel Gemüse für den Winter, aber auch viel Arbeit. Aber das machte Tina nichts aus, sie konnte Gemüsepflanzen vom Unkraut noch nicht unterscheiden. Hätte sie es nur nie zu unterscheiden gelernt, es hätte ihr später viel mühselige Arbeit erspart – doch das wusste sie nicht, und deshalb wollte sie es lernen.
Das alles war am Umzugstag noch kein Thema. Beim Ausladen der Möbel konnte die Mutter nicht mithelfen. Sie hatte mächtig an Gewicht zugenommen, was man besonders an ihrem dicken Bauch sehen konnte. Fremde Kinder aus der Siedlung am Standrand standen neugierig um das große Möbelauto herum, als hätten sie noch nie zuvor in ihrem Leben Möbel gesehen. Als der Möbelfahrer die Gitter ihres Bettes und das ihrer Schwester Gilla ins Haus trug, hörte sie ein paar Jungen sagen: „Mensch, haben die ne Menge Leitern, wozu sie die wohl alle brauchen?“ Tina klärte sie über ihren Irrtum lieber nicht auf, schließlich brauchte keiner zu wissen, dass sie mit ihren fast 6 Jahren noch in einem Gitterbett schlief.
Schade, dass sie an diesem Vormittag noch nicht wusste, worüber man sie am Abend aufklären würde. Das Gitterbett gehörte ihr gar nicht mehr. Sie bekam das ihrer Schwester Gilla, an welchem man die Gitter an den Seiten herunterlassen konnte, so dass es aussah wie ein richtiges Bett für Erwachsene. Nur dass es kürzer war. Die Mutter klärte sie auf. Der Onkel Erich, der nun ihr Vater war, saß dabei und lächelte. Tina fand das gar nicht zum Lachen, obwohl sie sich über das Bett freute. Doch man hätte es ihr vorher sagen können, dachte sie, dann hätte sie den Jungen mal richtig Bescheid sagen können, von wegen Leitern und so.
Die Mutter erzählte den sprachlosen Geschwistern, dass nun bald ein Kind mehr sein würde in der Familie. Und der neue Vater bat, wenn sie sich ein Brüderchen wünschten, sollten sie morgens Salz aufs Fensterbrett streuen. Diese Aufgabe übernahm Tina nur zu gern, denn erstens wollte sie keinen Zucker dafür opfern und zweitens fand sie, sie waren schon genug Mädchen. Also streute sie Salz. Und es half!
Irgendwann wurde die Mutter sehr krank und blieb stöhnend den ganzen Tag über im Bett. Eine fremde Frau kam sie besuchen. Die Kinder mussten draußen in der Küche bleiben. Irgendwann kam der Vater auch in die Küche und schickte Tina raus in den Hof. Sie sollte nachsehen, ob der Storch aufs Dach fliegen würde, damit er das Baby schnellaus dem Schornstein ziehen könne.
Tina zog sich warm an, denn es war schon Dezember und sehr kalt. Sie wartete und wartete – aber der Storch kam nicht. Stattdessen kam der Vater in den Hof und rief sie hinein. Als sie in die Wohnstube trat, waren ihre drei Schwestern schon da. Sie standen um einen runden Wäschekorb und waren ganz still. Im Korb lag das neue Brüderchen. Winzig und ganz rot, die Augen fest verschlossen und die Fäuste geballt. Tina dachte, er hätte die Fäuste sicher geballt, weil er durch den Schornstein gefallen war und sie konnte ihn verstehen. Der Storch hätte wenigstens ans Fenster kommen können, wegen dem Salz war er ja auch immer ans Fensterbrett gekommen. Doch das war nun egal. Rolli war da. „Endlich noch ein richtiger Mann im Haus!“ verkündete der Vater stolz.
Keiner hatte an diesem Tag Zeit, Tina die Frage zu beantworten, wann der Storch das Brüderchen in den Schornstein geworfen hatte. Abends im Bett klärte Irma sie auf: „Der Rolli ist nicht mit dem Storch gekommen, er war doch in Muttis Bauch, dort kam er her.“ Aber wie der Storch den Rolli in Muttis Bauch gelegt hatte, das erklärte Tina keiner. Dazu bist du noch zu klein, antworteten alle nur, wenn sie danach fragte. Aber Tina vermutete, dass ihre Schwestern das auch nicht wirklich wussten. Aber wenigstens wusste Tina, warum Mutter in letzter Zeit immer dicker geworden war.
Noch in der gleichen Nacht beschlossen die Geschwister Hella, Gilla und Tina flüsternd, den neuen Vater, der mit Vornamen Erich hieß, heimlich in Vaterich umzubenennen, damit er nicht so hieß, wie ihr eigener vermisster Vater, auf dessen Rückkehr sie noch immer heimlich hofften. Doch das durfte die Mutter nicht wissen und nicht einmal die von Tina so geliebte Schwester Irma, denn sie war ja bislang Vatis Vertreterin gewesen. Vaterich gefiel ihnen gut, er blieb ein wenig der Onkel Erich von einst und zugleich ein wenig auch der Vater Erich.
Nun lag Rolli in ihrem Gitterbett und Tina war es endgültig los. Sie beneidete ihn einwenig. Er hatte ein Gitterbett, einen Stubenwagen mit einem Himmel darüber und vielen Blümchen darauf, und einen Kinderwagen. Doch lange durfte er das alles nicht behalten. Denn irgendwann war es nicht mehr zu übersehen, dass die Mutter wieder einen mächtig dicken Bauch bekam.
Diesmal würde sich Tina nicht mehr in den Hof hinaus schicken lassen mitten im kalten Winter. Doch dazu kam es auch gar nicht erst. Denn mitten im Sommer schickte man Tina in die Ferien auf einen Bauernhof. Ihre Tante hatte sie abgeholt und sie waren zwei Stunden lang mit dem Zug unterwegs. Bei jeder Bahnstation fragte Tina, ob sie aussteigen könne, denn sie war sehr gespannt auf den Bauernhof. Doch Tante Irene war nach der zehnten Frage genervt und meinte nur: „Tina, wenn du noch mal fragst, dann setze ich dich am Bahnsteig ab!“ Das wollte Tina nicht, und so schwieg sie den Rest der Reise. Außerdem liebte sie ihre Tante und wollte sie nicht ärgern. Irgendwann während der Reise schlief die Tante ein. Tina fürchtete sich, sie könne die richtige Bahnstation nun verpassen. Aber der Schaffner kam ihr zu Hilfe. Er rüttelte die Tante an der Schulter wach und sagte ihr, dass sie gleich aussteigen müssten. Ihre Tante lächelte ihm freundlich und dankbar zu. Tina nickte bedeutungsvoll und erleichtert. Im Stillen dachte sie: „Hätte sie mir bei jeder Station geantwortet, wäre sie nicht eingeschlafen!“ Aber laut sagte sie das nicht.
Tina durfte neben ihm sitzen und die lange Peitsche halten, aber die sank nach einer Weile in ihren Händen immer vornüber herab, so dass der Onkel sie in eine Halterung an der Seite steckte. Der Onkel meinte gutmütig lachend: „Na Tina, wir werden dir schon Kraft anfüttern, und wenn du zurückfährst, dann wirst du die Peitsche festhalten können.“ Aber Tina mochte an die Rückfahrt noch gar nicht denken. Es war einfach herrlich, vorn auf dem Kutschbock zu sitzen.
Die Sonne schien und der Weg zum Bauernhof führte mitten durch Wiesen und Felder, an welche der Wald grenzte. Der Onkel war nicht etwa ein Bauer, nein, er nannte sich viel vornehmer. Er war der Leiter eines Bauerngutes, das hatte ihr die Mutter erklärt und es bedeutete, das riesige Bauerngut gehörte ihm nicht. Aber das störte Tina nicht. Sie hatte nur nicht ganz verstanden, ob es auch ein Bauernböse gibt. Da hatte ihre Mutter lachend erklärt, dass ein Bauerngut nichts mit gut oder böse zu tun hat, sondern dass man einen Bauernhof auch Bauerngut nennen kann.
Endlich fuhren sie mit der Kutsche durch das große Rundbogentor in das Gehöft ein. Es empfing sie ein unbeschreiblich würziger Duft, den sie in sich aufsog mit tiefen Atemzügen, denn ihre Mutter hatte zuvor immer gesagt: „Tina, die Landluft wird dir gut tun!“ Freudestrahlend kam ihr ihre gleichaltrige Cousine Hildchen entgegen. Hildchen freute sich wirklich, denn sie hatte keine Geschwister. Sie war ein halbes Jahr jünger als Tina. Das merkte man auch, denn als Tina ihr erzählte, dass ihren Bruder nicht der Storch gebracht hatte, staunte sie nicht schlecht und wollte es erst gar nicht glauben. Aber Tina musste es schließlich besser wissen, denn sie hatte ja einen Bruder. Dafür aber wusste Hildchen auf dem Bauernhof besser Bescheid. Sie brachte schon am nächsten Tag Tina das Schweinereiten bei.
Und das ging so: Zuerst musste man sich die Schuhe ausziehen, dann über den Zaun zu den Schweinen reinklettern. Die dösten in der Sommerhitze zumeist in feuchten Schlammkuhlen vor sich hin. Dann musste man sich langsam an sie ran schleichen, um sich dann blitzschnell auf sie zu schwingen und sich an ihren Ohren festhalten. Die Schweine sprangen ebenso blitzschnell auf, vor Schreck allerdings, und rasten wie wild über die Wiese. Das Vergnügen dauerte meist nicht lang, dann lagen Hildchen und Tina im Dreck.
Eine Woche später war das Schweinereiten mehr ein Schweinesitzen. Und das kam so: Die Schweine ließen sich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen, wenn die beiden auf ihnen saßen, und dösten weiter vor sich hin. Daher wusste Tina, dass Schweine nicht wirklich dumm sind, wie es immer hieß.
Hildchen hatte Tina beigebracht, um Ziegen einen großen Bogen zu machen. Die waren tatsächlich ziemlich angriffslustig. Also näherten sie sich nur den angepflockten Ziegen.
Die kitzelten sie mit einer langen dünnen Rute am Bauch und weil sie dann immer zu meckern anfingen, glaubten sie, sie lachten, weil es ihnen gefällt. Deshalb probierten sie es auch - aber wirklich nur ein einziges Mal - mit den nicht angepflockten Ziegen. Die meckerten zwar genau so, nur stießen sie den beiden sofort mit gesenkten Köpfen in den Bauch. Erschrocken wollten Hildchen und Tina davonlaufen. Aber die Ziegen versperrten ihnen kampflustig und mit gesenktem Kopf den Weg. Erst das angstvolle Schreien der beiden überraschte die Ziegen. Diesen Moment nutzten die Mädchen und rannten davon, so schnell sie ihre Beine trugen. Sie rannten geradewegs in den nahe gelegenen Kuhstall. Die Ziegen rannten kampflustig hinterher. Hildchen aber wusste nämlich, dass sich die Ziegen vor den großen Kühen fürchteten. Und tatsächlich, die Ziegen stoppten ihre Verfolgung an der Kuhstalltür.
Drinnen roch es unheimlich angenehm nach warmer frischer Milch und Heu. Und es war sauber, viel sauberer als bei den Schweinen. Wenn man zwischen den Kühen den Gang in der Mitte entlang ging, wedelten links und rechts in ruhigem Rhythmus die Schwänze herum. Hildchen erklärte, dass sie das wegen der lästigen Fliegen tun, um sie zu verjagen. Die Angst vor den frechen Ziegen hatten die Beiden hier drin schnell wieder vergessen. Das dumpfe Muhen und die sanft blickenden großen Augen der Kühe wirkten beruhigend.
Das allerschönste auf dem Bauernhof war das erst wenige Wochen alte braune Fohlen im Pferdestall. Sie durften es streicheln und mit Stroh das noch etwas zottelige Fell bürsten. Am Kopf hatte es kurze goldbraune Haare, ebenso am Schwanz, der ständig lustig hin und herwedelte. Man musste nur acht geben, dass es einem nicht auf die Füße trat. Da kannte sich Hildchen aus schmerzhafter Erfahrung aus. Wenn abends die Pferde von der Koppel heim in ihren Stall getrieben wurden, konnte man schon von weitem das Getrappel ihrer Hufe hören.
Das riesige Holztor zum Pferdestall war dann weit geöffnet und als das Geräusch der im Galopp herannahenden Pferde immer stärker wurde, kletterten Hildchen und Tina schnell die Leiter hoch und warteten oben auf dem Strohzwischenboden auf den spannendsten Augenblick auf einem Bauernhof. Die Pferde drängten nämlich stürmisch und wild durch das Tor herein und wie durch ein Wunder stand jedes nach wenigen Minuten, noch immer wild schnaubend und die Mähne schüttelnd, in seiner eigenen Box. Erst nachdem die Boxen durch eine starke Balkentür verschlossen waren, trauten sich Hildchen und Tina wieder herunter. Nachts hörten sie oft das Schnauben der Pferde durch das geöffnete Fenster der Schlafkammer. Am frühen Morgen dann konnte man ihr unruhiges Wiehern hören. Sie warteten schon, bis man wieder die Boxen öffnete und sie auf die Koppeln durften. Noch viel früher und auch viel lauter als das Schnauben und Wiehern der Pferde aber war das Krähen der Hähne. Doch da durften Tina und Hildchen noch weiter schlafen, denn das war noch zu früh, viel zu früh. Aber das zeitige geweckt werden kannte Tina schon durch ihren kleinen Bruder. Der stand auch immer mit der Sonne auf und begann ähnlich wie ein Hahn zu krähen, nur noch viel, viel lauter.
Es regnete und regnete, Hildchen und Tina saßen in der Wohnstube und malten. Sie nervten die Tante unaufhörlich mit der gleichen Frage: „Tante Irene, wer von uns hat das schönste Bild gemalt?“ Die Tante aber wich geschickt einer Entscheidung aus und antwortete: „Oh, ihr beide malt schon wie kleine Künstler.“ Doch das war den beiden gar nicht recht. Sie wollten es genauer wissen und drängten sie erwartungsvoll zu einer Entscheidung. Doch die Tante wich wieder aus und meinte: „Hildchen, deine Sonne ist sehr schön und bei dir Tina ist es der Baum – ihr malt wunderbar.“ Also malte Tina auf dem nächsten Bild eine schönere Sonne und Hildchen den schöneren Baum – das ging so lange, bis es ihnen langweilig wurde. Sie gaben die Fragerei auf Tante Irene war erleichtert. Dann eines Tages kam die Postfrau zu ungewöhnlicher Zeit, da sie sonst immer frühmorgens die Post brachte. Heute brachte sie ein Telegramm. Die Tante öffnete es und plötzlich rief sie: „Tina, du hast einen kleinen Bruder.“ Noch bevor Tina sagen konnte, dass sie das schon lange wusste, fügte die Tante hinzu: „Er heißt Wolfi!“ Tina wunderte sich, sie begriff nicht, wieso ihr kleiner Bruder nun einen neuen Namen bekommen hatte und war ein wenig traurig darüber. „Aber Tina, das ist ein neuer Bruder!“ sagte schließlich die Tante. Ja, das war Tina wirklich neu, und der Bruder auch.
Nun konnte es Tina trotz all der schönen Erlebnisse auf dem Bauernhof kaum noch erwarten, bis sie nach Hause durfte. Hildchen war ein wenig traurig darüber und fragte sie, ob sie große Sehnsucht nach ihren Geschwistern habe.
Tina überlegte eine Weile, bevor sie antwortete. Sie merkte, dass sie eigentlich nur Sehnsucht nach ihrer großen Schwester Irma und dem kleinen Bruder Rolli hatte und nun noch zusätzlich neugierig war auf den neuen Bruder Wolfi. Hildchen seufzte und meinte leise, dass sie das verstehe, weil sie Tina auch gern als Schwester behalten würde.
Wenige Tage nach diesem Ereignis, welches die Postfrau ins Haus gebracht hatte, brachten der Onkel, die Tante und Hildchen mit der Pferdekutsche Tina zum Bahnhof. Und diesmal kippte die Peitsche in Tinas Händen nicht mehr vornüber. Der Onkel lächelte ihr freundlich und anerkennend zu. Am Bahnhof angekommen bat die Tante den Zugbegleiter darauf zu achten, dass Tina in Doblina aus dem Zug steige und hängte ihr ein Pappschild mit der Aufschrift „Doblina“ um den Hals. Tina bekam einen Fensterplatz, einen Rucksack voller Leckereien, eine Fahrkarte und einen kleinen Koffer mit auf die Reise. „Ich bin eine richtige Reisende – nur das Pappschild passt nicht dazu“, dachte Tina und beschloss, dass Pappschild nun im Rucksack zu verstauen. Draußen standen winkend ihre Verwandten. Als die Tante bemerkte, dass das Pappschild fehlte, gestikulierte sie wild mit den Händen, was wohl so viel bedeuten sollte, wie „Häng das Pappschild wieder um!“. Doch Tina guckte nur verständnislos mit großen unschuldigen Augen hinaus. Der Zug ruckte an und ihre Reise begann.
Doch die Fahrt verlief ziemlich langweilig. Endlich kam der Zugbegleiter. Erst lief er an Tina vorbei, kam aber sofort wieder zurück und fragte sie: „Warst du das mit dem Pappschild?“. Tina nickt, dann nimmt er den Koffer, hängt ihr den Rucksack auf den Rücken und sagt, dass die nächste Station Doblina sei. Tina ist froh, so allein zu reisen ist doch nicht so toll. Und bei dem Gedanken, der Schaffner hätte sie fast übersehen und keiner hätte ihr gesagt, dass sie gleich aussteigen müsse, hätte sie sich am liebsten nachträglich noch das Pappschild umgehängt. Aber nun war es ja nicht mehr notwendig, sie war dem Schaffner aufgefallen und dafür dankbar. Aber das sagte sie ihm nicht, sonst hätte er bemerkt, dass sie vermutlich noch weiter gefahren wäre. Und das musste er schließlich nicht unbedingt wissen.
Als der Zug in den ihr vertrauten Bahnhof einfuhr, suchen ihre Augen in der draußen wartenden Menschenmenge nach einem bekannten Gesicht. Doch keines der vielen Gesichter schien ihr vertraut. Endlich stand der Zug still und der freundliche Schaffner öffnete die Tür und hob Tina die Stufen hinunter. Das ist ihr ein wenig peinlich vor all den fremden Menschen, doch sich dagegen wehren wäre noch peinlicher gewesen, also ließ sie es mit sich geschehen und seufzte nur in sich hinein, als er sie auf dem Boden abstellte, wie man es sonst mit dem Koffer macht. Er holt auch den Koffer und stellt ihn neben Tina ebenfalls auf den Boden. Tina dankt artig, doch er konnte das nicht mehr hören, denn er hatte viel Wichtigeres zu tun. Sie nahm den kleinen Koffer in die Hand und ging in die gleiche Richtung, wie alle, denn zwischen den vielen großen Erwachsenen konnte sie nicht sehen, wo der Ausgang ist. Alle hasten an ihr vorbei. Vielleicht wollten sie alle zu einem anderen Zug und nur Tina allein hatte Zeit, denn sie war ja soeben angekommen am Bahnhof der Stadt, in der sie wohnte und musste nicht weiter fahren. Sie würde gern langsamer laufen, doch dabei rennen die Erwachsenen sie fast um, also muss sie ein wenig rennen, um nicht selbst umgerannt zu werden. Plötzlich ist sie an einer Treppe und erst da werden die Erwachsenen langsamer. Endlich kann sie wieder mit Schritt halten. Oben angekommen löst sich diese Menschentraube wie durch ein Wunder in alle Richtungen auf und Tina bleibt einfach stehen, weil sie sich nicht entschließen kann, wem sie in welche Richtung folgen soll. Da plötzlich hört sie ihren Namen rufen und die Stimme, die ruft, ist ihr vertraut. Es ist Irma, die auf sie zu gerannt kommt und die ihr erst den Koffer aus der Hand nimmt, um danach Tina zu umarmen, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Jetzt erst merkt Tina, wie sehr ihr die große Schwester gefehlt hat und ihr rollen vor Erleichterung die Tränen die Wangen herab. Irma hat einen kleinen Handwagen mitgebracht. Da hinein packen sie den Koffer und den Rucksack und machen sich auf den langen Heimweg.
Das erste, was Tina zu Hause sehen will, ist ihr neuer Bruder Wolfi. Der liegt, wie könnte es anders sein, in Rollis Korb. Wolfi hatte am Kopf einen ganz feinen hellen Schimmer, wie Samt. Das waren seine blonden Haare. Rolli inzwischen zog mächtig an Tinas Kleid, er will wohl auch seinen Bruder sehen, dachte Tina. Sie nahm ihn hoch, er war schon richtig schwer geworden, noch dazu mit seinem Windelpaket um den Po. Doch er will nicht in den Korb sehen. Er fasst Tina an den Zöpfen und schmatzt sie mit seinem feuchten Mund ab. Er ist so froh, dass Tina wieder da ist. Er kann es ihr nur noch nicht sagen. Und Tina ist auch froh, als sich seine kleinen Ärmchen um ihren Hals legen und er sein Köpfchen an ihre Wange lehnt.
Tinas hat nun ihren beiden Schwestern Gilla und Hella viel zu erzählen und das erste Mal hören ihr die Schwestern gespannt zu. Ferien auf einem richtigen Bauernhof haben sie noch nicht erlebt. Tina ist mächtig stolz. Und sie schmückt ihre Erzählungen entsprechend aus. Seufzend lauschen die Schwestern.
Als Tina am Abend zu Bett ging, erwartete sie in der Schlafstube eine Überraschung. Na ja, so sehr überrascht war sie eigentlich nicht. Ihr Bruder Rolli lag in ihrem Bett, die sonst heruntergelassenen Seitengitter waren deshalb wieder oben. Wolfi aber lag in Rollis Gitterbett, das irgendwann einmal auch Tina gehört hatte. Und für Tina stand ein großes weißes Metallbett ohne jedes Gitter da. Nun gehörte auch sie zu den „Großen“.
Das sollte sie nicht viel später noch auf eine ganz andere Weise erfahren. Sie wurde eingeschult. Sie bekam ein neues, weißes Kleid mit kleinem bunten Blümchenmuster darauf, einen braunen Lederranzen mit Schiefertafel, Schwamm und Lappen, Griffeln – das waren Stifte zum Schreiben auf der Tafel – zwei neue große Bücher mit Buchstaben und Zahlen sowie zwei Hefte, 2 Bleistifte und einen Radiergummi. Die Mutter hatte ihr das Kleid aus dem Stoff vom Himmel über Wolfis Körbchen genäht. Er konnte so viel mehr von der Umgebung außerhalb des Körbchens sehen, meinte auch der Vaterich. Das Allerbeste aber war die riesige Zuckertüte. Was sie allerdings gar nicht mochte, das waren die beiden weißen Schleifen an ihren Zöpfen. Doch die Mutter bestand darauf, weil es ein besonderer Tag war, mehr als ein Sonntag und auch mehr als eine Geburtstagsfeier. Tina kam sich vor, als hätte man zwei riesige weiße Schmetterlinge an ihren Zöpfen festgebunden. Sie hätte viel lieber ihr Haar offen gelassen. Aber die Mutter ließ sich nicht überreden. „Zöpfe mit Schleifen sind ordentlich, offene Haare sind liederlich!“, war ihre Antwort. Und so musste sich Tina ergeben. Sie wollte nicht liederlich in der Schule erscheinen. Wenngleich das Argument der Mutter sie nicht recht überzeugte, fügte sie sich widerstandslos. Sie mochte diese Prozedur des morgendlichen Zöpfe Flechtens noch nie. Viel zu sehr liebte sie es, wenn ihr das Haar um den Kopf wirbelte.
Nach der Einschulungsfeier in der Schule konnte sie die Tüte nicht einmal bis über den Schulhof tragen. Sie war zu schwer. Der Vaterich trug die Tüte den langen Weg nach Hause. Zuhause feierten alle, dass Tina nun zur Schule gehen durfte. Die Mutter hatte einen großen Obstkuchen mit dicken Streuseln darauf gebacken. Und weil es sonnig und warm war, war der Tisch auf der Wiese unter dem riesigen Apfelbaum gedeckt. Es war wirklich ein besonderer Tag. Tinas Schwestern waren besonders nett zu ihr. Doch das hatte seinen Grund. Sie wollten andauernd etwas aus ihrer Tüte haben. Tina zeigte sich großzügig, doch sie entschied, was die Beiden sich nehmen durften. Am Abend war sie dann nicht mehr so schwer, so dass Tina die riesige Zuckertüte selbst hinein tragen konnte. Ihre Mutter entfernte endlich auch die Schleifen aus Tinas Zöpfen und der Feiertag war damit endgültig vorüber. Als sie endlich abends im Bett lag, betete sie leise flüsternd unter der Bettdecke, damit es die Schwestern nicht hörten. Denn diesmal sprach sie nicht zum lieben Gott, sie betete zu ihrem Vati: „Lieber Vati, schade, dass Du heute bei meiner ersten richtigen Feier nicht dabei warst, ich bin jetzt eine Schülerin und bald kann ich lesen und schreiben. Aber besonders will ich erst schreiben lernen, dann schreibe ich Dir Briefe, und wenn du aus Russland nach Hause kommst, kannst Du sie alle lesen und weißt dann, was ich inzwischen alles gemacht habe. Komm bitte bald, damit ich nicht so viele Briefe schreiben muss. Amen. Deine Tina“
Es war schön in der Schule, nur der allererste Tag ging schief. Aufgeregt liefen Erwachsene und Kinder durch das Schulgebäude. Tina hatte sich die Nummer des Klassenzimmers nicht gemerkt und auch nicht die Gesichter der Kinder, die zu ihrer Klasse gehörten. So stand sie dann am Morgen auf dem langen Schulkorridor und wusste nicht, wohin. Dann schrillte die Klingel durch den Flur und nach ganz kurzer Zeit war kein Mensch mehr zu sehen. Nacheinander wurden alle Klassenzimmertüren geschlossen. Tina blieb allein. Sie hätte weinen mögen – aber sie tat es nicht. Sie hoffte auf ein Wunder. Das Wunder kam in Gestalt eines größeren Mädchens mit rotblonden Zöpfen. Das fremde Mädchen wusste irgendwie sofort Bescheid. Es fragte Tina nur nach dem Namen und verschwand danach in einem Zimmer. Doch sie kam sofort zurück, nahm Tina an die Hand und führte sie in eines der Klassenzimmer. Tina erkannte die Lehrerin von der Einschulungsfeier, Fräulein Zetschke, sofort wieder. Nun wusste sie, dass sie angekommen war. Noch bevor sie sich bei dem Mädchen bedanken konnte, war dieses verschwunden.
Die Lehrerin zeigte ihr den Platz, auf dem sie künftig sitzen würde. Er war gleich neben dem Fenster. Der Platz gefiel ihr gut. In der ersten Pause fragte Tina ihre neue Banknachbarin, wieso alle anderen sofort das richtige Klassenzimmer gefunden hätten. Die Erklärung war ganz einfach. Alle anderen Kinder waren von ihren Müttern abgeliefert worden, sogar die Jungen. Tina schwieg und dachte nur bei sich, dass diese Mütter vermutlich keine kleinen Babys zu Hause hatten. Und so war es keine Kunst, das richtige Klassenzimmer auf Anhieb zu finden. Am nächsten Tag fand auch Tina sofort das richtige Klassenzimmer, auch ohne ihre Mutter, während die anderen noch immer mit ihren Müttern kamen, ja, sogar die Jungen ihrer Klasse. Sie hatte sich einfach die Ziffer über der Klassenzimmertür gemerkt. Denn die Zahlen 1 bis 10 kannte sie bereits und ihr Klassenzimmer hatte die Nummer 3.
Einen Jungen gab es in der Klasse, der traute sich Unglaubliches. Er packte mitten in der Unterrichtsstunde seine Brote aus und begann zu essen. Als die Lehrerin ihn im strengen Ton aufforderte, alles sofort wieder einzupacken, packt er es ein – aber eben wirklich alles, nämlich auch seine Tafel und Griffel, schnallte seinen Ranzen auf den Rücken und ehe ihn die Lehrerin aufhalten konnte, verließ er das Klassenzimmer und kam an diesem Tage auch nicht wieder zurück. Er war einfach nach Hause gegangen. Tina war sprachlos.
Der hat aber Mut, dachte sie bei sich. Das wiederholte sich so noch mehrere Male. Dann versuchte die Lehrerin schließlich, die Tür zu versperren – doch konnte sie nicht die ganze Unterrichtsstunde dort stehen bleiben. Und sobald sie sich von der Tür entfernte und wieder vor zur Tafel ging, verschwand der Junge wieder. Die Kinder fanden es spannend und lustig und sie mochten den Jungen deshalb, auch wenn er ihnen oft die Zunge herausstreckte, wenn sie sich nach ihm umdrehten, um ihn besser beobachten zu können.
Irgendwann fragte ihn die Lehrerin: "Frank, warum tust du das?". Und er antwortete ihr sogar, aber er stand dabei nicht auf, wie es sein sollte. Nein, er blieb einfach in der Bank sitzen. „Was soll ich hier lernen, wo ich nicht mal essen darf, wenn ich Hunger habe!“ gab er als Antwort. Die Lehrerin nickte nachdenklich und ab sofort durfte er essen, wenn er Hunger hatte. Doch das schien ihm keinen Spaß mehr zu machen, und so ließ er es bald sein und aß wie alle anderen, nur noch in der Pause. Und für den Rest der Klasse war das Vergnügen vorbei.
Eines Tages im Mai kamen die Russen in die Schule. Das Klassenzimmer war geschmückt mit Girlanden und Lampions. Die Russen brachten Süßigkeiten und Obst mit, draußen auf dem Schulhof spielte einer der Soldaten Harmonika und einige tanzten dazu. Sie trugen alle blank geputzte schwarze Stiefel.
Tina nahm all ihren Mut zusammen und zupfte einen der Russen am Ärmel. Er war ein Offizier, das wusste Tina schon, weil er die meisten Abzeichen an seiner Uniform und auch die schönste Mütze von allen trug. Als er sich zu ihr herabbeugte, flüsterte sie ihm leise ins Ohr: „Lieber Russe, kannst du nicht machen, dass mein richtiger Vati nach Hause darf zu uns, ihr habt ihn vermisst, und der liebe Gott hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Bitte, schicke ihn doch heim!“ Der Russe hatte plötzlich Tränen in den Augen, strich ihr übers Haar und sagte: „Weißt du, wenn dein Vati bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen ist, dann ist er sicher schon im Himmel beim lieben Gott. Und von da kommt keiner wieder…Doch nach langer Zeit irgendwann wirst Du auch dorthin gehen, und dann siehst Du ihn wieder.“ Er kramte in seiner Hosentasche und zeigte Tina ein Foto von einer Frau und einem kleinen Jungen. „Siehst du, das ist meine Frau und das hier mein Sohn. Sie sind auch schon im Himmel und irgendwann werde ich sie dort wieder sehen. Und so wirst du deinen Vati auch wieder sehen.“ Er wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Tina schenkte ihm ihr Taschentuch. Die Lehrerin schaute neugierig zu ihnen herüber. Der Russe legte den Finger auf den Mund und das bedeutete, sie solle mit niemandem darüber sprechen. Sie nickte und ganz leise sang sie ihm das russische Lied vor, dass ihr einst die Soldaten mit den Äpfeln gelernt hatten. Da lächelte er wieder. Daheim erzählte sie niemandem von diesem Erlebnis. Daheim mochte niemand die Russen.
Tinas Weg von der Schule bis nach Hause zog sich mächtig in die Länge, doch das machte ihr nichts aus. Sie musste ihn immer alleine gehen. Die anderen Kinder ihrer Klasse wohnten alle in der Stadt. Auf dem Schulweg hatte sie Zeit, Gedichte auswendig zu lernen und das Einmaleins. Zuhause hatte sie dafür weniger Zeit, denn da machte sie erst die schriftlichen Hausarbeiten und danach die praktischen Hausarbeiten, so etwa wie Geschirr abtrocknen, Staub wischen oder mit den beiden kleinen Brüdern spielen. Und da sie inzwischen zu ihrem Leidwesen längst gelernt hatte, Unkraut von jungen Gemüsepflanzen zu unterscheiden, kam im Sommer noch Gartenarbeit hinzu.
Aber es kam auch Vergnügliches. Im Garten standen viele Obstbäume. Und Tina lernte das Klettern. Obwohl so richtig Klettern musste sie nicht, denn der einzige Baum, den sie mühelos hinaufklettern konnte, hatte einen zwar mächtigen, aber kurzen Stamm. In Augenhöhe gabelten sich zwei riesige Äste, auf die sie mühelos hinauf kam. Dieser Apfelbaum erfüllte für sie einen ganz besonderen Zweck. Bevor sie hinauf kletterte, hatte sie sich zuvor unter dem Kirschbaum die Schürzentaschen voller Kirschen gestopft. Das war eigentlich verboten, denn alles Obst und Gemüse wurde zum größten Teil eingekocht als Kompott für den Winter. Nur ein kleiner Teil des Obstes durfte deshalb zum sofortigen Aufessen gepflückt werden. Deshalb pflückte Tina heimlich. Dazu hatte sie einen alten Holzrechen, den der Vaterich aussortiert hatte, weil ihm zu viele Holzzinken fehlten, ganz hinten im Garten unter den Büschen versteckt. Damit zog sie die Äste des Kirschbaumes herab und pflückte die Kirschen ab. Die unteren Äste durfte sie nicht abpflücken, sonst wäre der Verdacht sofort auf sie gefallen. Denn sie war schließlich die Kleinste und konnte als einzige nur die unteren Äste erreichen. Danach versteckte sie den Holzrechen wieder unter den Büschen und stieg so hoch als möglich auf den Apfelbaum, um die Kirschen unbeobachtet in aller Ruhe genießen zu können. Von hier oben hatte sie eine wundervolle Aussicht in die Nachbargärten. Doch eins hatte sie nicht bedacht. Der Vaterich bekam ihr Geheimnis dennoch heraus, und das kam so:
Sie spuckte nämlich die Kirschkerne geradewegs hinunter und da lagen sie wie gesät unterm Apfelbaum, wo sie absolut nicht hingehörten. Und sie bekam mächtig Ärger. Deshalb war sie viel schlauer, als die Pflaumen reiften. Diesmal ersparte sie sich die Mühe des Kletterns, versteckte sich mit den stibitzten Pflaumen unter den Büschen und spuckte auch die Pflaumenkerne nicht einfach aus, sondern vergrub sie fein säuberlich in der Erde. Als sie später in der Schule lernte, dass aus den Kernen auch Samen entstand wunderte sie sich, dass nicht der ganze Garten voller Pflaumen- und Kirschbäumen stand.
Hinter dem Haus aber war etwas, was sie immer wieder in ihren Bann zog. Zwei große Hasenställe – aufgeteilt in kleine Boxen, die mit engmaschigem Draht versehene Türchen besaßen. Oft mehr als 30 große und winzig kleine grauweiße Kaninchen lebten darin auf gelbem Stroh. An der Seite jeder dieser Boxen gab es kleine Drahtgestelle, aus denen frisches duftendes Heu herab hing. Runde Futternäpfe aus schwerem Ton waren mit Kartoffelschalen und Gemüseabfällen gefüllt, an denen die kleinen wie die großen Kaninchen sich satt essen konnten. Die ganz kleinen hätte sie zu gern gestreichelt, doch das durfte man nicht, hatte der Vater erklärt. Die Hasenmutter würde den fremden Geruch wahrnehmen und ihre Kinder nicht mehr als die eigenen Kinder erkennen und dann nicht mehr säugen. Tina musste warten, bis die kleinen Häschen das Nest verließen, weil sie nicht mehr gesäugt werden brauchten und schon an den aus dem Futternapf gefallenen Schalen knabberten. Eines dieser kleinen Häschen liebte sie besonders und sie gab ihm einen Namen: "Moritz"
Moritz war etwas Besonderes. Er war als Erster am Türchen, wenn Tina den Hasenstall öffnete, er ließ sich streicheln und auf den Arm nehmen und kuschelte sich an Tinas Hals. Sein warmes seidenweiches Fell erschien ihr besonders dicht zu sein. Mit großen runden Knopfaugen sah er Tina an. Am Liebsten hätte sie Moritz mit ins Haus gebracht, doch das war strikt verboten. Weil aber Tina über ihrem Kleid oft eine Schürze trug, konnte sie ihn von den Eltern unbemerkt darunter hinauf in ihr Zimmer tragen. Auf ihrem Bett breitete sie eine Decke aus und begann, ihm kleine Kunststücke beizubringen. Moritz schien das genau so wie ihr Spaß zu machen. Hielt sie ihm eine Möhre vor sein rosiges Schnuppernäschen, setzte er sich auf die Hinterbeine und wartete so lange, bis sie das Möhrchen vor ihm ablegte. Erst dann ließ er sich wieder auf alle seine vier Pfötchen fallen. Doch erst, nachdem Tina sagte „Iss!“ begann er an dem Möhrchen zu knabbern.
Gelang es Tina, eine Kartoffel spiralförmig abzuschälen, bewahrte sie diese Schale extra für Moritz auf. Er knabberte sie an einem Stück hinunter, was deshalb so lustig war, weil er diese „Spirale“ auf den Hinterbeinen mehr stehend als sitzend und mit den Vorderläufen haltend verspeiste. Dies tat er nur bei den langen spiralförmigen Kartoffelschalen. Tina hatte ihm das nach wochenlangem Geduldsspiel beigebracht. Gab sie ihm eine kurze Schale, machte er sich diese Mühe nicht. Sie war überzeugt, er konnte eine lange von einer kurzen Kartoffelschale also unterscheiden. Und deshalb war Moritz etwas ganz Besonderes.
Tina erinnerte sich daran, wie oft ihre Mutter früher mit ihrer ältesten Schwester geschimpft hatte, Irma sollte beim Kartoffelschälen die Schalen nicht so dick werden lassen. Damals hatten sie zwar auch schon Kaninchen, aber nur zwei, die wurden scheinbar auch von dünnen Schalen satt. Nun aber waren es so viele Kaninchen, dass sie oft sogar richtige Kartoffeln gekocht als Futter bekamen. Das Kartoffelschälen war nun kein Problem mehr, egal ob die Schalen dick oder dünn waren, es interessierte keinen mehr. Das wiederum war ein Glück für Tina, denn dünne Schalen abschälen war echt mühevoll.
Der Duft, der in der Nähe der Hasenställe zu riechen war, erinnerte sie an die wundervollen Tage auf dem Gutshof ihres Onkels.
Den Hühnerstall betreten war fast lebensgefährlich. 10 Hennen wurden eifersüchtig von einem bunt gefiederten Hahn bewacht, der jeden sofort aufgeregt mit den Flügeln flatternd ansprang und mit seinem spitzen harten Schnabel zuhackte, als wolle man ihm eine der Hennen wegnehmen. Doch Tina wollte keine der Hennen, sondern deren Eier aus den Nestern holen. Sie fürchtete sich vor diesem mutigen Hahn, deshalb hatte sie sich eine List ausgedacht. Zuerst lockte sie ihn mit dem Ruf „ Puuut putt putt…“ aus dem Hühnerstall, warf ihm einige Körner in den mit hohem Drahtzaun abgegrenzten Freilauf, flitzte mit wehenden Zöpfen in den Hühnerstall und schloss von innen das Türchen, durch den die Hennen samt Hahn über eine Hühnerleiter hineingelangten. Die Hennen gackerten zwar fürchterlich laut, wenn Tina die Eier aus dem Nest vorsichtig in den ebenfalls mit Stroh ausgelegten Korb einsammelte, doch sie hackten nie mit ihren Schnäbeln.
Der Hahn war eigentlich dumm, stellte Tina befriedigt immer wieder fest, denn er fiel täglich wieder auf ihren Trick herein. Nachdem sie den Korb mit den frisch gelegten Eiern behutsam zur Mutter in die Küche getragen hatte, lief sie zurück, um das Türchen zu öffnen. Blitzartig verließ sie danach den Hühnerstall noch bevor der gereizte Hahn zurückkam, um nach seiner Hühnerschar zu sehen.
Ihre Schulfreundinnen beneideten sie um all das, was Tina täglich an Abenteuern mit den Tieren erlebte. Sie wohnten alle in der Stadt und hatten noch nie einen so kampf- und angriffslustigen Hahn erlebt. Und Eier aus dem Nest noch warm unter den Hennen wegstibitzen, das erschien ihnen wie ein Märchen.
Viel zu erzählen hatte auch ihr Onkel Paul, der hin und wieder zu Besuch kam. Dann saß er meist mit Mutter und Vater in der guten Stube und sie tranken den selbst gemachten Wein. Dabei wurde er zusehends redseliger. Er war ein liebenswerter Märchenonkel. Tina saß zu gern auf seinen Knien und hörte von ihm die absonderlichsten Geschichten. Die Mutter lachte darüber und meinte, man dürfe ihm kein Wort glauben von dem, was er erzählte. Er bemalte sich mit Ruß die Stirn und sagte, er sei in Wirklichkeit der Bruder des Indianerhäuptling Winnetou. Auf der Brust hatte er einen Indianerkopf auf der Haut eintätowiert. Und am Oberarm zeigte er stolz eine abgebildete Friedenspfeife. Nur den Federkopfschmuck habe er nicht mehr, den haben ihm Indianer vom Stamme der Schoschonen gestohlen. Als er seinen Federschmuck zurückholen wollte, habe man ihn erwischt und die Finger einer Hand abgeschlagen. Und das stimmte wirklich, bis auf den Daumen fehlten ihm an einer Hand sämtliche Finger. Tina durfte sogar mit den Fingerspitzen über diese Narbe streichen.
Irgendwann erzählte er ihr von ihrem Vati. Er habe im Krieg neben ihm im Schützengraben gelegen und ihr Vati sei einer der Tapfersten gewesen. Er habe eine Verwundung am Bein, doch er habe nicht gejammert vor Schmerzen, als der Feind ihn angeschossen habe. Dabei tippte der Onkel mit dem Daumen auf Tinas linkes Knie.
Tina lauschte und sie hätte ihm seine Geschichten über ihren Vati doch so gern geglaubt. Doch er verbot ihr, der Mutter davon zu erzählen. Tina versprach es, doch sie hielt ihr Versprechen dem Onkel gegenüber nur so lange, so lange er da war. Als sie der Mutter die Geschichte erzählte, schüttelte sie den Kopf und erklärte ihr, dass der Onkel wirklich nur ein Märchenonkel sei. Er sei nicht im Krieg gewesen, weil ihm an der Hand die Finger fehlten. Seine Finger haben ihm aber nicht die Indianer abgeschlagen, sondern er hatte sich beim Holzhacken selbst verletzt. Dabei habe er sämtliche Finger an seiner Hand verloren. Das leuchtete Tina ein, denn die Mutter musste es wissen, Paul war schließlich der jüngere Bruder von ihr.
Bald war Weihnachten, und wie in jedem Jahr sollte es an den Feiertagen Hasenbraten geben. Tina hasste dieses Festessen, auf das sich alle anderen schon freuten. Tina bekam eines Morgens die große graue Leinentasche um die Schulter gehangen. Die Tasche war oben zugebunden. Sie war riesig. Und sie war schwer. Darin saß der „Weihnachtsbraten“. Tina musste den künftigen Braten, der noch lebend in der Tasche saß, zum Schlachter bringen. Der Weg dahin war nicht weit, doch Tina kam es vor, als würde sie den schwersten Weg ihres Lebens gehen. Beim Schlachter angekommen, schickte der sie ins Haus zu seiner Frau, damit sie nicht sah, wie er den Hasen schlachtete und ihm danach das Fell abzog. Der Schlachter hieß Herr Buhrig und er hatte einen Fleischerladen und eine sehr nette Frau. Die drückte ihr ein Würstchen in die Hand mit der aufmunternden Bemerkung, sie solle es sich schmecken lassen, dabei strich sie ihr übers Haar. Doch sie biss nicht einmal hinein. Sie hätte keinen Bissen hinunter bekommen. Sie nahm das Würstchen für ihre beiden kleinen Brüder mit nach Hause.
Als der Schlachter nach ihr rief, war der Festtagsbraten schon tot in der Tasche, das Fell ebenso. Auf dem Heimweg schien ihr die Tasche ungleich schwerer geworden zu sein. Wortlos brachte sie die Tasche zur Mutter in die Küche.
Der Vater nahm das Fell heraus und spannte es über einen Holzrahmen zum Trocknen und hing dies unter das Vordach des Schuppens. Er hatte schon viele Hasenfelle gesammelt und wollte später daraus wärmende Jacken fertigen lassen.
Tina ging inzwischen zum Hasenstall zu ihrem Moritz. Dann schrie sie. Moritz Box war leer. Verzweifelt suchte sie alle Boxen nach ihm ab. Doch Moritz war nicht da. Schreiend lief sie in die Küche zur Mutter und fragte nach Moritz. Die Mutter wollte wissen, wer Moritz sei. Entsetzt schlug Tina die Hände vors Gesicht und schluchzend erzählte sie von ihrem Geheimnis um Moritz. Die Mutter wurde still.
„Tina, wir haben dir doch verboten, die Tiere mit ins Haus zu nehmen, warum hörst Du nicht auf das, was man dir sagt!?“ „Aber Mutti, Moritz war etwas Besonderes. Moritz war nicht einfach nur ein Hase. Er war klug. Er war mein Freund! Also sag mir, wo er ist!“ flehte sie die Mutter an. Eine Weile schwieg die Mutter, dann rief sie den Vater herein. Ihre beiden kleinen Brüder saßen reglos auf dem Sofa und beachteten ihre Bilderbücher auf den Knien nicht mehr. Beide schienen die Tragik der Situation schon zu spüren, obwohl sie noch beide so klein waren. Nur Tina begriff noch immer nichts.
Die Mutter wisperte leise mit dem Vater. Tina stampfte weinend mit den Füßen auf den Boden und bettelte noch einmal, ihr zu sagen, wo ihr Moritz sei. Dann räusperte sich der Vater und meinte zu Tina: „Jetzt verstehst du vielleicht, warum es verboten war, eines der Tiere mit ins Haus zu nehmen, oder?!“ Tina verstand die Frage nicht! Sie wollte eine Antwort auf ihre eigene Frage anstatt eine neue Frage hören. „Wo ist nun mein Moritz! Sagt es endlich!“ wurde sie zornig.
„Du hast doch einen Hasen zum Schlachter gebracht, Tina. Dann wird das wohl dein Moritz gewesen sein, wenn er nicht mehr im Stall ist.“ sagte daraufhin der Vaterich.
Tina begriff nicht. Sie sah ihren Vaterich an, dann ihre Mutter. Ihre Augen wurden größer, ihr Mund öffnete sich leicht, ihre kleinen Hände ballten sich zu Fäusten. Doch kein Ton kam aus ihrem geöffneten Mund. Keine Träne rollte aus ihren entsetzten Augen. Sie stampfte nicht auf mit dem Fuß. Sie stand nur und war nicht bereit zu glauben, was sie doch nun schon wusste. Ihr Moritz war tot. Einfach tot. Und sie selbst hatte ihn zum Schlachter gebracht. Man würde den Tisch festlich mit dem guten Geschirr decken. Man würde den Festtagsbraten in die Mitte des Tisches stellen. Es würde Salzkartoffeln und Apfelrotkohl dazu geben. Und die anderen würden ihren Moritz aufessen.
Viele Jahre später noch fehlte ihr jede Erinnerung an dieses Weihnachtsfest. Es war wie ausgelöscht aus ihrem Gedächtnis.
Sie weigerte sich von diesem Tage an, den Hasen das Futter zu bringen. Ihre Schwestern mussten nun Tinas Pflicht des Fütterns mit übernehmen. Sie taten es widerwillig, doch das Argument der Eltern, sie könnten sonst keinen Hasenbraten mehr essen, weil die Hasen verhungern würden, überzeugte sie schließlich.
Tina machte einen Bogen um den Stall, um den ihr so vertrauten Duft nicht einatmen zu müssen.
Und sie begann wieder zu beten, so wie einst, als sie den lieben Gott bat, ihren Vati aus dem Krieg nach Hause zu schicken. Doch sie hatte nicht viel Hoffnung, dass ihr Gebet erhört wurde – so wie einst ihr Vater, so würde auch Moritz nicht mehr zu ihr zurückkehren. Und nun erst glaubte sie auch zu wissen, warum ihr Vater nicht zurückkommen konnte. Er war ganz sicher tot, so wie ihr Moritz auch. Sie fehlten ihr beide.
Die Nachbarin, Tante Elli genannt, hörte sich geduldig an, was mit Moritz passiert war und versuchte sie zu trösten. „Das musst du verstehen, Tina, Kaninchen sind zum Essen da. Unsere Katze bekommt bald Junge, frag doch deine Eltern, ob du eins haben darfst. Katzen werden nie geschlachtet, Tina. Du kannst also das Kätzchen für lange Zeit behalten. Und es fängt Mäuse auf dem Dachboden.“ Das war ein Argument. Tina war begeistert und am gleichen Abend fragte sie die Eltern. Doch die erlaubten es nicht, eben weil man eine Katze nicht schlachten konnte und sie also nur Futter brauchte, ohne Nutzen zu bringen. Dass sie Mäuse fing, überzeugte die Eltern nicht. Sie hatten längst Mausefallen auf dem Dachboden aufgestellt. „Esser haben wir schon genug im Haus!“, meinte der Vaterich.
Tina bekam dennoch ein Kätzchen von der Nachbarin. Tina brachte das Kätzchen unter der Schürze heimlich auf den Dachboden – der Mäuse wegen war es zugleich auch ein guter Futterplatz, so glaubte Tina. In einem ausgewaschenen Tintenfässchen brachte sie mehrmals heimlich frische Milch hinauf. Und von den täglichen Mahlzeiten ließ sie unbemerkt von der Mutter kleine Happen in ihrer Schürzentasche verschwinden. Die Mausefallen aufzustellen übernahm nun Tina selbst. Sie ließ sich ganz gelehrig vom Vater zeigen, wie man damit umging. Doch nicht etwa, um damit Mäuse zu fangen – im Gegenteil. Sie musste die Mausefallen nur zur Tarnung auf den Dachboden tragen. Aufstellen durfte sie die Fallen nicht, sonst hätte sich das Kätzchen verletzen können. Der Vater übertrug ihr deshalb nichts ahnend und bereitwillig diese Aufgabe, doch dazu sollte sie nur einmal wöchentlich auf den Dachboden, trug ihr der Vaterich auf. Tina aber musste und wollte mehrmals täglich hinauf zu ihrem Kätzchen, um mit ihm zu spielen und es zu füttern.
Um nun unbemerkt auf den Dachboden zu gelangen, musste sie die Leiter anstellen, die Bodenklappe öffnen und als sie hinaufgeklettert war, zog sie die Leiter nach oben, damit keiner bemerkte, wo sie war. Dann schloss sie die Bodenklappe wieder. Das ging einige Wochen ganz gut. Doch das Kätzchen wurde schnell größer und schlief nicht mehr so häufig, sondern tollte auf dem Dachboden herum. Irgendwann wurde der Vater stutzig und schaute nach, woher diese seltsamen Geräusche kamen. Er hatte sich schon geraume Zeit gewundert, dass Tina immer gesagt hatte, dass noch immer keine Maus in eine der Fallen gegangen sei. Mäuse hatte man bis dahin außerdem immer nur des Nachts hören können. Als er das Kätzchen entdeckte, wurde er zornig und bestand darauf, dass Tina es der Nachbarin zurückbrachte.
Er mochte absolut keine Katzen leiden. Nun aber weigerte sich Tina, die Mäusefallen auf dem Dachboden aufzustellen. Und so übernahm er das Fallenaufstellen wieder selbst. Das fand Tina gerecht. „Wenn er es der Katze nicht erlaubte, sollte er die Mäuse selber fangen.“, dachte Tina.
Doch der Dachboden übte seither einen besonderen Reiz auf Tina aus. Sie hatte einen alten braunen völlig verstaubten Lederkoffer entdeckt mit vielen Büchern. Es waren die Bücher und Briefe ihres im Krieg vermissten Vatis. Lesen konnte sie die Schrift ihres Vatis nicht, doch in einem der Briefe hatte er einen kleinen Tannenbaum gemalt, das war Tinas Lieblingsbrief. Wenn sie die Augen fest zusammenkniff, sah sie plötzlich unter dem gemalten Tannenbaum ein kleines Paket. Und sie stellte sich vor, dass ihr Vati ihr damit eine wundervolle Überraschung machen wollte. Ganz sicher war darin endlich die von ihr so lang ersehnte eigene Puppe. Doch er hatte das Paket nicht mehr abschicken können, nur der Brief hatte sie auf wundersame Weise erreicht.
Von nun an stahl sie sich immer öfter auf den Dachboden, zog die Leiter hoch und verschloss die Bodenluke sorgfältig und las in den Büchern. So versank sie beim Lesen in eine ihr bisher fremde Welt. Und das Halbdunkel des Dachbodens bot die Kulisse für ihre Phantasie.
Das alte Schaukelpferd unter der Dachschräge wurde zum wilden schwarzen Rappen, auf dem sie mit Schwert und Schild bewaffnet kühne Kämpfe gegen eine Übermacht von Feinden bestand. Ihr leicht lockiges Haar wehte, wenn sie auf der winzigen Leiter unter dem offenen Dachfenster saß und sehnsüchtig in die Ferne blickte.
Alte Hüte mit zerschlissenem Stoff behangen ließen sie zur Prinzessin in einem Schloss werden. Ihr Kätzchen von einst war in ihrer Phantasie ein wilder Löwe, der sie vor jeder Gefahr beschützte.
Die schwarzen ledernen Stiefel ihres Vatis an den dünnen Beinchen und ein aus Papier gefalteter Helm auf dem Kopf ließen sie zum General einer ruhmreichen Truppe werden, der mutig zum Kampf gegen den Feind rief und sich als erster in das Getümmel stürzte. Dabei vermied sie es, den Feind als „Russen“ zu bezeichnen, weil sie sich an die Tränen in den Augen des Offiziers und an die vielen Äpfel erinnerte, die sie einst von den russischen Soldaten geschenkt bekam.
Keiner wusste von ihrem Zauberreich. Es war ihr Geheimnis. Niemand durfte es ahnen. Weder ihre Geschwister noch ihre Eltern. Es war ihr Reich.
Nicht einmal ihre beste Schulfreundin durfte etwas davon wissen. So lebte sie wie in zwei Welten. Die eine war der Alltag mit all seinen Aufgaben, die sie pflichtbewusst erfüllte, die andere Welt gehörte nur ihr ganz allein. Nachdem sie ihre täglichen Schul- und Hausaufgaben erledigt hatte, mit ihren Brüdern gespielt oder bei der Gartenarbeit geholfen hatte, wartete sie schon innerlich ungeduldig, um sich unbemerkt auf den Dachboden zu schleichen. Oft benutzte sie dazu einen Trick. Sie verließ das Haus, um zu ihrer Schulfreundin zu gehen. Doch sie verließ nicht einmal den Garten, sie kletterte durch das kleine Schuppenfenster zurück ins Haus und schlich leise die Treppe hinauf ins Obergeschoss, von wo aus sie unbemerkt über die Leiter auf den Dachboden gelang.
Irgendwann aber hörte sie ihre Mutter laut rufen. Zu aufgeregt erschien ihr dieses Rufen, als dass sie gewagt hätte, es einfach zu überhören. Leise also schlich sie auf dem gleichen Weg zurück. Doch sie konnte nicht zu dem kleinen Fenster hinausklettern in den Hof, denn dort stand schon ihre Mutter und was noch viel schlimmer war, dort stand auch ihre Schulfreundin, bei der sie ja eigentlich zu sein hatte. „Oh je, was mach ich nur?“ flüsterte Tina erschrocken vor sich hin.
Sie überlegte nicht lang, ging auf Zehenspitzen hinauf in das Schlafzimmer, legte sich ins Bett und stellte sich schlafend, bis ihre Mutter sie im Bett entdeckte. Ganz erschrocken fragte sie: „Aber Tina, was ist mit dir? Fühlst du dich nicht gut? Um diese Zeit im Bett? Bist du krank?“ „Ach nein, ich war nur so müde, aber jetzt ist es vorbei, ich hab ein wenig geschlafen!“ antwortete sie ganz langsam, um zu zeigen, dass sie doch eben erst aufgewacht sei. Man glaubte ihr. Ein wenig schämte sie sich für ihre Lügen, noch mehr aber fürchtete sie, ihr Geheimnis könnte entdeckt werden. Und sie faltete am Abend unter der Bettdecke die Hände zum Gebet:
"Lieber Gott im Himmel, ich durfte dir auch nie böse sein, dass du meinen Vati nicht aus dem Krieg nach Hause geschickt hast. Nun sei mir bitte auch nicht böse, dass ich Mutti angelogen habe, versprich es mir, ja? Deine Tina"
In den Sommerferien wurden Irma, Hella, Gilla und Tina für 2 Wochen zur Oma zur Erholung geschickt. Erholung sollten Ferien bedeuten, in denen man besonders gesund nach Hause zurückkehrt. Tina jammerte, sie sei nicht krank, also brauche sie auch keine Erholung. Aber es half nichts. Die Mutter erklärte nämlich, sie brauche auch selbst mal Erholung. Dagegen konnte man wirklich nichts sagen, denn die Mutter hatte immer viel zu tun. Auch ihre Cousine Hildchen war bei Oma, Hildchen aber war nicht zur Erholung, sie war einfach in den Ferien da und blieb auch viel länger, als Tina und ihre Schwestern.
Tina hatte in dieser Zeit auch Geburtstag. Am Morgen schlich sie sich heimlich aus dem Schlafzimmer um nachzusehen, ob die Geschenke schon auf dem Tisch für sie bereit lagen, so nämlich machte es immer die Mutter daheim. Aber nichts war zu sehen. Missmutig kroch sie wieder zu den Schwestern ins Bett. Sie mussten zu Dritt in einem Bett schlafen, weil Oma nicht so viele Betten besaß, wie Tinas Eltern. Hildchen schlief zwischen Oma und Opa, das war noch viel schlimmer, denn der Opa schnarchte so unheimlich laut, dass die Kinder nachts abwechselnd aus dem Bett stiegen, um ihn wachzurütteln. Das quittierte dann der Opa mit einem besonders lauten Schimpfen, man solle ihn endlich in Ruhe schlafen lassen. Am nächsten Morgen wusste er zum Glück nichts von alledem, sonst hätte er vermutlich noch lauter geschimpft. Oma schien das Schnarchen nicht zu stören, sie hatte sich wohl schon daran gewöhnt. Hildchen jammerte am meisten, weil der Opa ihr nachts dauernd in die Ohren blies beim Schnarchen. Am nächsten Abend band Oma allen vier Mädchen ein Handtuch unterhalb des Kinnes um und verknotete es oben auf dem Kopf, damit sie das Schnarchen nicht so laut hörten. Die zusammengeknoteten Zipfel des Tuches standen wie zwei Ohren vom Kopf ab und so hoppelten die Vier abends wie die Hasen mit viel Gelächter ins Bett. Irma hatte es gut, sie schlief nämlich in der Wohnstube ganz allein auf dem Sofa.
Erst am Nachmittag wurde Tinas Geburtstag gefeiert. Neben einem dicken Märchenbuch und Süßigkeiten lag ein neues Kleid für Tina. Es war hellgrün mit einem weißen Kragen. Und sie durfte es auch gleich anziehen. Dann gab es Fruchttorte und Kakao. Bevor die Kinder auf den Hof gingen, wurde Tina ermahnt, das neue Kleid nicht schmutzig zu machen. Über Nacht hatte es geregnet und der sandige Boden im Hof war aufgeweicht, zahlreiche riesige Pfützen verleiteten die Kinder, „Fangen“ zwischen den Pfützen zu spielen. Dabei war es verboten, in die Pfützen zu springen, wer es dennoch riskierte, musste den „Häscher“ machen, bis er selbst jemanden fangen konnte. Tina im neuen Kleid traute sich nicht, zwischen den Pfützen mit herumzuturnen. Sie stand mit gehörigem Abstand von den Pfützen und schaute den anderen zu. Das war auch gut so, denn plötzlich mit großem Geschrei lag Hella inmitten einer schlammigen Pfütze. Sie sah ganz fürchterlich aus, noch fürchterlicher aber war das „Donnerwetter“, das Oma über sie ergehen ließ, sie verbot sofort das „Fangespiel“ und Hella musste in die Badewanne, weil sogar ihre Zöpfe voller Schlamm waren. Hildchen und Tina beschlossen in der Nähe vom Gartenzaun eine Wasserburg zwischen den Pfützen zu bauen. Sie holten Sand aus dem Sandkasten und vermischten ihn mit dem lehmigen Sand des Hofes. Die Burg war prächtig. Tina war immer bedacht, ihr Kleid nicht zu beschmutzen. Anstatt mit den Händen die Wasserburg festzuklopfen, wie Hildchen es machte, benutzte Tina eine kleine Schaufel, damit die Ärmel des Kleides nicht versehentlich nass wurden. Oben auf die Spitze der Wasserburg steckten sie kleine Zweige und einen hohen Mast.
Tina flitzte zur Oma in die Küche, um ein Stück Papier als Fahne für den Mast zu erbitten. Schon im Hinausgehen hörte Tina plötzlich einen spitzen Schrei von Oma: „Tina!“ rief sie, wobei sie das i ganz lang zog! Tina blieb wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an! „Oma, was ist denn? Hast du dir wehgetan?“ „Dir wird gleich selbst etwas wehtun!“, dabei erhob Oma drohend zuerst die Augenbrauen und dann die Hand mit dem Kochlöffel, „hab ich dir nicht gesagt, du sollst dein Kleid nicht schmutzig machen? Und wie siehst du nun aus?“
Tina blickte an sich herunter, ihr Kleid war blitzsauber. „Aber Oma, ich bin doch sauber!“, gab sie erleichtert Antwort. „Dann schau nach hinten, dein Kleid ist voller Schlamm! Zieh es sofort aus!“ Als Tina das Kleid über den Kopf zog, merkte sie, wie ihre Haare an etwas kleben blieben. Dann sah sie mit Entsetzen ihr neues Kleid. Beim Kauern zwischen den Pfützen hatte sie nicht bedacht, dass ihr Kleid hinten inzwischen mitten im Schlamm hing. Nun musste sie wie zuvor Hella ebenfalls in die Badewanne, weil beim Ausziehen der Schlamm auch ihre Haare verschmutzt hatte.
Beim anschließenden Haare kämmen ziepte es, obwohl Oma sonst Tinas Haar stets ohne Ziepen geordnet hatte. Tina wagte nicht zu jammern. Sie kniff die Augen zusammen und hoffte, es würde gleich vorbei sein. Irgendwann war es das auch. Sie schielte zum Opa hinüber, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Er nickte ihr zu und meinte: „Also Du hältst ganz schön was ab, alle Achtung!“ Das war ein richtiges Lob aus seinem Munde, denn er mochte keine „Jammerliesen“, wie er immer sagte. Er setzte seinen Lieblingsenkel Wolfram auf den Boden und strich ihr übers Haar. Darauf war sie mächtig stolz, denn das geschah wirklich nur in Ausnahmesituationen. Wolframs Lieblingsplatz waren Opas Knie, der ihn geduldig auf den Knien wippte. Wolfram war wohl zu Recht sein Lieblingsenkel. Braune Locken umrahmten sein
kleines Gesicht und aus großen dunklen Augen sah er alle an und diesem Blick konnte niemand widerstehen. Selbst der Opa nicht, der Zärtlichkeiten als „Weiberkram“ abtat.
Nach dreimaligem Waschen war am nächsten Tag ihr neues Kleid wieder einigermaßen sauber. Doch restlos war der Schmutz nicht zu entfernen. Am Saum blieb das sonst helle Grün als dunkelgrüner Rand. Oma schnitt kurzerhand ein Stück vom Kleid ab, danach schnitt sie von einem Bettlaken einen langen Streifen und nähte eine weiße Rüsche an den Saum, die wunderbar zum weißen Kragen passte. Tina freute sich, das Kleid sah mit der weißen Rüsche viel hübscher aus, als je zuvor. Oma murrte noch ein wenig wegen der vielen Arbeit und wegen der Näherei und auch wegen dem schmaler gewordenen Betttuch.
Die Oma wohnte nicht weit weg vom Friedhof.
Der Friedhof erinnerte Tina immer wieder an ihren Vati. Sie wünschte sich, er hätte wenigstens auch ein so schönes Grab mit einem glänzenden Stein, auf dem sein Name stand, dann hätte sie es mit frischen Blumen schmücken können. Noch viel mehr aber wünschte sie, er käme lebend zurück aus Russland. Hildchen und Tina gingen oft hinüber zum Friedhof. Sie rechneten aus, wie alt die Verstorbenen waren. Wer zuerst das Ergebnis hatte, durfte eine Blume vom Grab nehmen. Wessen Blumenstrauß zum Schluss am größten war, der hatte gewonnen. Dieses Spiel konnten sie aber nur zweimal spielen, denn am dritten Tag kam der Pfarrer hinzu. Doch er war nicht böse. Sie mussten nur mit in die Kirche und dort auf Knien beten. Doch Tina kannte kein Gebet, außer dem Gebet für ihren Vati. Der Pfarrer hörte ihr schweigend zu. Nachdem sie ihr Gebet beendet hatte, wollte der Pfarrer mehr von ihrem Vati wissen. Doch Tina wusste nicht viel über ihren Vati, nur dass er eine Brille wie sie selbst trug und er viele Bücher hatte und dass er in Russland vermisst blieb und deshalb nicht aus dem Krieg zurückgekommen war. Ausnahmsweise, so sagte der Pfarrer, durften sie die Blumen behalten und bekamen noch einen Korb voller Pflaumen geschenkt. Der Korb mit Pflaumen sollte wohl Tina wegen des vermissten Vaters trösten, doch es tröstete sie nicht, denn Pflaumen hatten sie daheim genug im Garten.
Der Erholungsurlaub ging zu Ende. Tina hatte tatsächlich zugenommen. Oma war stolz darauf, es lag an ihrem guten Essen, meinte sie. Tina wusste es besser, denn es lag nicht so sehr am Essen von Oma, sondern an der Schokolade, die sie und Hildchen immer geschenkt bekamen, wenn sie für Oma einkaufen gingen. Die Krämersfrau, so nannte Oma die Frau hinter dem Ladentisch, war einmal in Tinas Vati verliebt gewesen, das hatte sie so erzählt. Und weil Tina ihrem Vati so ähnlich sah, war das wohl ein Glück für sie. Und dieses Glück zahlte sich in täglicher Schokolade aus. Doch noch schmackhafter fand Tina die Karamellstangen. Dafür hätte sie sogar auf ihren täglichen Löffel Zucker verzichtet, den sie heimlich aus Omas Zuckerdose löffelte. Oma schimpfte nämlich, wenn sie Zucker aß. Das sei nicht gesund, meinte sie. Aber Tina glaubte ihr nicht, denn Tina konnte sich nicht erinnern, von Zucker je krank geworden zu sein. Sie fühlte sich eher krank, wenn sie keinen Zucker essen durfte.
In der Schule gefiel es Tina gut, inzwischen besuchte sie schon die 4. Klasse. Und anstatt des Sportunterrichtes war in diesem Schuljahr Schwimmunterricht. Das bedeutete, 2 Stunden in der Woche durfte man Baden gehen. Aber ganz so vergnüglich wie einst war das Baden als Schwimmunterricht nicht. Der Schwimmlehrer ließ alle am Beckenrand aufstellen, Auf sein Kommando mussten alle in das tiefe Wasser hinein springen. Davor aber hatte Tina keine Angst, oft schon zuvor hatten Jungs sie ins tiefe Wasser geschubst und sie hatte wild um sich schlagend und strampelnd noch immer den rettenden Beckenrand erreicht. Diesmal aber durfte man nicht zurück an den Beckenrand, sondern man musste schwimmend die andere Seite des Beckens erreichen. Tina aber ging immer die Puste schon in der Mitte des Beckens aus. Und deshalb fürchtete sie sich vor dem Sprung ins Wasser. Doch es nützte nichts, sie musste wie alle anderen springen. Doch sie wusste sich zu helfen, sie stellte sich ans Ende der Reihe, denn wenn man dort hineinsprang konnte man noch mit den Fußspitzen den Boden erreichen, und so lief mit den Fußspitzen den Boden berührend und vom Schwimmlehrer Bohne unbemerkt bis hinüber zum anderen Beckenrand. Doch es kam noch viel schlimmer, was ihr das ganze Badevergnügen nehmen sollte. Um den heiß begehrten Schwimmer-Ausweis zu erhalten, musste man vom 3 m hohen Turm ins Becken springen. Als sie am äußersten Ende des Sprungbrettes stehend in die Tiefe sah, verließ sie der Mut. Das Brett wippte verdächtig bei jeder Bewegung und so traute sie sich auch nicht, sich einfach umzudrehen und zurück zu gehen. Sie stand und merkte, wie ihr die Knie zu zittern begannen. Den lieben Gott um Hilfe bitten hatte sie sich längst abgewöhnt. Doch der hatte wohl dem Schwimmlehrer eine Eingebung geschickt. Nachdem all sein Zureden nichts geholfen hatte, Tina zum Springen zu bewegen, rief der ihr plötzlich zu: „Tina, wenn du dort oben Hunger bekommst, sag es, ich bring dir meine Stullen rauf! Ich hole sie gleich.“ Er verließ den Beckenrand in Richtung der Kabine des Schwimmmeisters, um die Stullen zu holen. Das war Tina dann doch zu viel und noch bevor der Schwimmlehrer die Kabine betrat, sprang sie mit zusammengekniffenen Augen in die Tiefe. Nach Luft japsend tauchte sie wieder auf und der Schwimmlehrer hielt ihr lachend den Schwimmausweis entgegen. Glücklich und stolz zählte sie nun zu denen, die einen Schwimmausweis besaßen. Vom 3 m hohen Turm aber sprang sie nie wieder.
Tina besuchte mittlerweile die 5. Klasse, doch ihr Klassenzimmer war nicht mehr hoch oben auf dem Berg im Gebäude des Schlosses untergebracht, sondern am Fuße des Schlossberges. Das Gebäude war düster und grau, der Schulhof mit einer Mauer umgeben. Große Kastanien spendete Schatten. Während der Hofpause durfte man nicht etwa herumtollen, sondern musste zu zweit nebeneinander in einem großen Kreis hintereinander her laufen. Laut sprechen durfte man nicht, und wurde man langsamer, traten die Kinder sich in die Fersen, also musste man mit allen Schritt halten. Diese Pausen hasste Tina, sie hielt den Kopf gesenkt und wartete sehnsüchtig auf das Klingelzeichen zum Ende der Hofpause. Dann setzte ein heilloses Durcheinander ein, denn es gab zum Schulgebäude 2 Eingänge und der sich auflösende Kreis kam völlig durcheinander. Die Lehrer standen neben den Eingangstüren und achteten darauf, dass man auch beim Betreten des Schulgebäudes gesittet nebeneinander blieb. Erst drinnen im Klassenzimmer tobten alle noch einmal lärmend und erleichtert durcheinander, denn bis die Lehrer das Klassenzimmer betraten, hatten die Kinder noch etwa 5 Minuten Zeit.
In den Klassenzimmern herrschte stets Halbdunkel, weil die Fenster bis zur halben Höhe mit weißer Farbe gestrichen waren, vermutlich damit die Kinder nicht durch verträumtes Hinausblicken abgehalten wurden, dem Unterricht zu folgen. Die Jungen, die das Glück hatten, die Bankreihe am Fenster zu belegen, hätten um keinen Preis mit den Mädchen, die die mittlere und die Bankreihe an der grünlicher Ölfarbe gestrichen Wand belegten, getauscht. Und sie hatten mit ihren Fingernägeln kleine Gucklöcher in die Farbe geritzt, durch die sie hinausschauen konnten. Aber wehe, eines der Mädchen versuchte das Gleiche, da wurde so lange geschubst, bis die Mädchen freiwillig aufgaben.
Tina hatte aus den Briefen und Karten ihres Vatis einige beschriebene Postkarten mit in die Bücher gelegt, um sie als Lesezeichen zu benutzen. Da sie die Handschrift ihres Vatis noch immer nicht lesen konnte, kannte sie den Inhalt des Geschriebenen nicht. Während des Deutschunterrichtes blieb die neue Lehrerin, Frau Weinert, neben ihr stehen und blickte streng auf Tina herab. „Was liest du da?“ fragte Frau Weinert. Tina blickte auf und antwortete ordnungsgemäß: „Ich lese den Text der Erzählung, so, wie sie es uns gesagt haben!“ „Nun, und wozu hast du dann diese Postkarte?“ fragte die Lehrerin barsch. „Ach, die nehme ich nur als Lesezeichen.“ „Zeig mal her!“ kam die Aufforderung. Tina reichte ihr zögerlich die Karte.
Die Lehrerin schien die Schrift des Vaters entziffern zu können, wie Tina etwas neidisch feststellte. Plötzlich knallte der Zeigestock der Lehrerin auf Tinas Schulbank. Tina zuckte erschrocken zusammen. „Von wem hast du diese Karte?“ Tina zog die Schultern zusammen und antwortete leise: „Sie hat mein Vati geschrieben, als er im Krieg war.“ „Aha, dein Vater also! Fast habe ich es mir gedacht. Nun, diese Karte bekommst du nicht zurück, ich werde sie dem Direktor vorlegen!“ „Bitte, geben sie mir die Karte zurück, sie ist doch von meinem Vati!“ bat Tina, den Tränen nahe. Doch die Lehrerin würdigte sie keines Blickes, ging zum Lehrerpult und steckte die Karte in ihre Tasche.
In der Klasse war es mucksmäuschenstill, irgendetwas Dramatisches schien sich soeben abgespielt zu haben, doch keiner wusste recht, was geschehen war.
Am allerwenigsten Tina selbst.
Endlich war die Deutschstunde zu Ende. Am Geplapper der anderen beteiligte sich Tina nicht. Sie war unendlich traurig über den Verlust der Ansichtskarte, sie nahm alle anderen Karten aus den restlichen Büchern, hüllte sie in ein weißes Blatt Papier und legte die Karten in ihre Brotdose.
Kaum hatte sie die restlichen Karten verstaut, öffnete sich die Klassentür und die Lehrerin rief sie zu sich mitsamt ihrem Ranzen. Sie solle sich beim Direktor in dessen Zimmer melden. Das geschah sonst nur, wenn jemand schlimmen Unfug während des Unterrichtes oder in den Pausen angestellt hatte.
Tina schlich gesenkten Kopfes durch den Schulkorridor bis hin zum Zimmer des Direktors. Sie klopfte an und sogleich vernahm sie von drinnen die Aufforderung, herein zu kommen. Hinter einem großen Schreibtisch voll bepackt mit Büchern und Heften saß der Direktor. Er war ein großer, kräftiger Mann, hatte keine Haare mehr auf dem Kopf aber dichte dunkle Augenbrauen. Seine Stimme klang streng, als er fragte: „Woher hast du diese Karte, du musst es mir ganz genau sagen, verstehst du?“ Tina nickte. Nach kurzem Überlegen aber sagte sie: "Ich weiß es nicht mehr." Der Direktor erhob sich zornig von seinem Stuhl, knallte mit einem ihrer Bücher auf seinen Schreibtisch, dabei zogen sich seine starken dunklen Augenbrauen zusammen und sein Gesicht färbte sich leicht rot: "Sag endlich, woher du sie hast!" Tina kam es so vor, dass der Direktor mit jedem Wort größer zu werden schien. Dann antwortete sie noch leiser als zuvor: "Ich habe sie gefunden, aber ich weiß nicht mehr, wo!" Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. "Ich hab es einfach vergessen!" Um keinen Preis hätte sie von dem großen Sack auf dem Boden erzählt, wo ihre Mutter die Briefe von Tinas Vater aufbewahrt hatte.
Der Direktor schien sich jedes Wort aufzuschreiben. Als Tina geendet hatte, befahl er ihr, den ganzen Inhalt des Ranzens auf dem Schreibtisch auszuschütten. Sie zog sämtliche Bücher und Hefte heraus und legte sie ordentlich übereinander auf den Tisch. Der Direktor jedoch nahm ihr plötzlich den Ranzen aus der Hand und schüttete den restlichen Inhalt darüber aus. Dabei fielen Lineal und Federtasche sowie die Brotdose heraus. Dann erst blätterte er Bücher und Hefte durch. Tina wusste, was er suchte. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie hoffte auf ein Wunder – und das Wunder geschah: Die Brotdose öffnete er nicht.
Sie durfte ihre Schulsachen wieder einpacken, danach schickte er sie ins Klassenzimmer zurück und verbot ihr, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Streng betonte er, dass sie auch daheim zu niemandem darüber sprechen sollte. Tina versprach es. Als sie die Karte ihres Vatis zurück erbat, die ihr die Deutschlehrerin weggenommen hatte, runzelte der Direktor die Stirn und wurde zornig. „Diese Karte gehört verbrannt! Du bekommst sie nicht wieder zurück! Aber sprich mit Niemandem darüber! Und nun geh!“
Tina ging. Die Tränen rollten ihr die Wangen herab, und, obwohl sie sich vor den anderen Kindern ihrer Klasse dieser Tränen wegen schämte, konnte sie nicht aufhören zu weinen.
Als sie am Nachmittag daheim entgegen ihrem Versprechen vor dem Direktor von dem Vorfall in der Schule erzählte, wurde die Mutter nervös und gemeinsam mit dem Vaterich holten sie die Briefe und Bücher von Tinas Vati vom Boden und packten sie in einen Sack aus Leinen. Den stellten sie zu den anderen Säcken, die gefüllt waren mit Stroh und Heu als Vorrat für die Kaninchen und die Nester der Hühner, in den Schuppen. Tina gelang es, noch einige Briefe an sich zu bringen, auch den mit dem kleinen Tannenbaum. Einige wenige Briefe, Karten und Bücher blieben im Koffer auf dem Dachboden zurück. Zuerst verstand Tina die ganze Aufregung nicht, doch schon am nächsten Nachmittag wusste sie, warum die Eltern so hastig den Sack vom Boden hinunter in den Schuppen transportiert hatten.
Zwei fremde Männer standen am nächsten Nachmittag an der Tür. Sie zeigten der Mutter ein weißes Blatt und wollten das ganze Haus durchsuchen. Bereitwillig zeigte ihnen Tinas Mutter, wo die Leiter für den Boden war, als sie auch den durchsuchen wollten. Sie stiegen hinauf und fanden einen Koffer mit Büchern und alles was sie darin befand, wurde „beschlagnahmt“. Das bedeutete, sie nahmen einfach alles mit. Tina weinte und schrie, doch es half nichts. Die Männer sahen sich noch im ganzen Haus um, auch in Tinas Zimmer. Doch auch diesmal beachteten sie die Brotdose nicht. Schließlich durchsuchten sie sogar den Kaninchenstall, den Hühnerstall und den Schuppen, doch den Sack mit den Büchern und Briefen zwischen all den anderen vielen Säcken mit Stroh und Heu entdeckten sie nicht.
Als die Männer den Hof endlich verließen, tröstete die Mutter Tina: „Sei ruhig, die allermeisten Bücher und Briefe sind ja noch da. Aber nimm nie wieder Postkarten mit in die Schule. Versprich es mir und erzähle niemandem, dass wir noch welche haben, ja?“ Tina versprach es und sie hielt ihr Versprechen. Doch es nützte nichts. Eines Nachmittags als Tina von der Schule nach Hause kam, loderte im Garten ein Feuer. Sonst verbrannte der Vaterich trockene Zweige und Äste klein gehackt in Stücken immer im Küchenherd um Kohlen zu sparen. Doch diesmal waren es keine trockenen Zweige von den Obstbäumen im Garten – es waren die Briefe von Tinas Vati.
Zu groß war die Angst vor dem Direktor und vor den fremden Männern, dass sie bei einer erneuten Durchsuchung die Briefe finden würden. Tina war traurig und fühlte sich schuldig an der Verbrennung der letzen Erinnerungen an ihren Vati.
Die Mutter erklärte ihr, warum die Männer die auf dem Boden gefundenen Bücher und einige wenige Postkarten beschlagnahmt hatten. Ein Mann namens Hitler habe mit seinen Helfern den Krieg gegen Russland begonnen, der so vielen Menschen Elend und Tod gebracht hatte. Ihr Vati hatte auf den Postkarten während des Krieges am Schluss seiner Grüße mit „Heil Hitler“ unterzeichnet. Hätte er das nicht getan, so sagte ihr die Mutter, dann hätte man ihn schon damals ganz fürchterlich bestraft, vielleicht sogar erschossen. Nun aber, nach dem Krieg, war es wiederum bei Strafe verboten, „Heil Hitler“ zu sagen oder zu schreiben. Und deshalb war es auch verboten, solche Postkarten mit in die Schule zu bringen. Tinas Einwand, dass sie das alles nicht gewusst hatte und doch die Schrift ihres Vatis gar nicht lesen konnte, half ihr jedoch nicht mehr viel.
Sie verriet der Mutter nicht, dass sie einige der geretteten Postkarten und Briefe heimlich und gut versteckt bei sich zwischen ihren eigenen Büchern aufbewahrt hatte. Niemals würde sie diese Briefe je hergeben. Es war das einzige, was ihr von ihrem Vati blieb. Vielleicht würde er sie ihr selbst einmal vorlesen, wenn er irgendwann zurückkäme, so hoffte sie noch immer…
II. Teil
Man schrieb inzwischen das Jahr 2000...
An diesem Winterabend nach dem Weihnachtsfest kramte sie aus ihren Fotoalben und Briefen auch einen vergilbten Brief ihres Vaters aus. Es war der Brief mit dem gemalten Weihnachtsbaum.
Ihre Enkel schauten ihr gespannt dabei zu, wie sie all diese Dinge von einst hervorkramte. Jonas, der Jüngste ihrer drei Enkel war noch zu klein, um dies alles zu verstehen. Die beiden älteren rückten näher an ihre Oma. In der Schule hatten beide einen Familienstammbaum basteln müssen mit Fotos. Damals tauchte zum ersten Mal die Frage nach ihrem Urgroßvater auf. Die Urgroßmutter lebte noch, doch die Jungen hatten nie nach einem Urgroßvater gefragt, weil auch die anderen Urgroßmütter längst keinen Mann mehr hatten. Es schien ihnen natürlich, dass Urgroßmütter keinen Urgroßvater an ihrer Seite hatten. Die Umstände, warum das so war, hatte sie bis dahin noch nicht beschäftigt.Oma Tina begann aus den Briefen vorzulesen aus einer längst vergangenen Zeit. Zwar machte es ihr Mühe, die Schrift ihres Vaters zu entziffern, denn er schrieb damals noch die alten deutschen Schriftzeichen, die ihr dennoch inzwischen so vertraut waren vom vielen Lesen, dass sie seine wenigen erhalten gebliebenen Briefe fast auswendig kannte. Atemlose Stille herrschte. Die beiden Jungen wollten so vieles wissen über ihren Urgroßvater, den sie nur von Bildern her kannten.
Sie erzählte ihnen vom Krieg, der Zerstörung und Tod und mit dem Tod so viel Leid gebracht hatte, der so vielen Kindern den Vater genommen und der soviel Unheil über die Menschen in so vielen Ländern gebracht hatte.
„Omi, wer ist so böse und macht Krieg, der so viele Menschen tötet und so viel kaputt macht überall?“, fragte der siebenjährige Freddy. „Mein Junge, du musst es dir so vorstellen: Jemand hat etwas, was der andere unbedingt auch haben möchte. Und wenn er glaubt, er ist stärker als der andere, dann nimmt er es ihm mit Gewalt weg. Die Gewalt und der Besitzanspruch des Stärkeren ist die Wurzel allen Übels!“ versuchte Oma Tina ihren Enkeln zu erklären. Die beiden nickten, sie verstanden, was ihre Oma meinte. Oft genug schon hatten sie sich um ein Spielzeug gezankt. Ihre Mutter hatte dann immer zu schlichten versucht mit den Worten: „Seid friedlich und einigt euch, wer wann damit spielt, seid vernünftig, ihr seid doch schon groß!"
„Omi, aber die Erwachsenen sind doch schon groß, warum wissen sie das nicht, dass sie sich friedlich einigen müssen?“ hakte der zehnjährige Toby nach. „Ja mein Junge, wie Recht du hast, doch Erwachsensein bedeutet nicht gleichzeitig, dass sie alle klug und vernünftig sind!“ „Das stimmt, Omi!“ bestätigte der Jüngere und stieß seinem älteren Bruder kichernd den Ellbogen in die Seite, was wohl so viel bedeuten sollte, wie: „Damit haben wir auch schon unsere Erfahrungen gemacht!“
„Ich bin nicht sicher, ob man Kriege für alle Zeiten verhindern kann. Die Menschen haben noch nie aus der Geschichte gelernt. Sie werden nicht alt genug, um zu lernen, dass nur sie allein es verhindern können – wenn sie den persönlichen Mut zum „Nein“ sagen haben! Es gibt einen Ausspruch, der so wahr er ist, und der trotzdem noch nie beherzigt wurde: „Stell Dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin!“ Die einfachen Menschen wollen keinen Krieg, von einigen wenigen vielleicht abgesehen, weil sie verblendet durch Hass und Unwissen sich selbst einen persönlichen Vorteil erhofften. Doch die übergroße Mehrzahl der Menschen wissen um das Leid, welches ein Krieg denen bringt, die dafür ihr Leben opfern sollen. Sie sehen ja auch, was zur Zeit in anderen Ländern geschieht. Es müssen die Menschen, die im Krieg gegen andere Menschen kämpfen und ihr Leben lassen sollen, ihn nicht führen wollen und sich geschlossen verweigern! Doch scheinbar wissen diese Menschen nichts von ihrer eigenen Stärke, denn das lehrt man sie wohl nicht. Man führt sie so oft in die Irre mit einem Schwur zur Treue für Volk und Vaterland.“
Die beiden Jungen rückten näher an sie heran, so als könne sie ihnen Schutz bieten vor dieser für sie noch undefinierbaren Gefahr, welche sich mit dem Wort „Krieg“ verband. „Lies weiter, Omi, bitte!“
Und so las sie mit gedämpfter Stimme aus den letzten Briefen ihres Vaters von der Front. Vor ihren Augen entstand das Bild ihres Vaters, wie er im Halbdunkel des Bunkers beim Schein einer Kerze in einer Gefechtspause zwischen den Kämpfen, die auf beiden Seiten täglich mehr und mehr Opfer kostete, seine Gedanken an seine Lieben daheim niederschrieb. Aus all seinen Worten sprach die Sehnsucht nach seiner Familie und sein Bemühen, seiner Frau und den Kindern die Angst um ihn zu nehmen. Dennoch konnte er die eigenen Ängste nicht verbergen. Zu nah hatte er den Tod täglich vor Augen. Kein Wort stand darin von den eisigen Schneestürmen im bitterkalten Winter 1943. Kein Wort von stündlichen Todesängsten, die Furcht, ein Brief könne in falsche Hände geraten und ihn vor das Kriegsgericht bringen und somit den Verlust seiner Ehre, mag größer gewesen sein als der Schrecken davor, die massiven feindlichen Angriffe könnten den Tod bringen. Er schilderte in keinem seiner Briefe das unermessliche Leid derer, die sinnlos ihr Leben lassen mussten für Ziele, die nicht die ihren waren. Er wagte es nicht, er wollte niemandem eine Handhabe geben, durch geschriebene Worte an die Lieben daheim, sich selbst und seiner Familie zu schaden.
Ostfront, den 9. 12. 1943
meine lieben guten Kinderchen!
kommen. Nehmt bitte die kleine Aufmerksamkeit mit viel Freude. Leider ist es mir nicht vergönnt, Euch etwas anderes zu schenken. Hoffentlich kommt diese Kleinigkeit wenigstens gut an.
Euer guter bester Vati und Dein bester guter Martin.
welches sie am Heilig Abend unter dem Weihnachtsbaum gelegt hatte, um es gemeinsam mit den Kindern auszupacken. Und sie hatte, wie er in einem späteren Brief sich gewünscht hatte, auch die Schallplatte mit seinen
Lieblingsliedern abgespielt, nicht ahnend, was mit ihm gerade an diesem Tage fern der Heimat geschah.
Und Ihr in der Heimat braucht Euch absolut nicht zu sorgen. Die Anforderungen sind manchmal ungeheuerlich, aber wir halten durch. Die Heimat wird sicherlich auch ihr Bestes tun.
nochmals, Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Gott wird mich sicherlich auch weiterhin beschützen.
Euer guter bester Vati und Dein bester guter Martin.“
Und dann hielt Tina diesen Brief in den Händen, den sie als Kind schon voller Sehnsucht nach ihrem Vati unzählige Male an ihr kleines Herz gedrückt hatte. Die Schrift war schon fast unleserlich verblichen und abgegriffen. Das Papier war vergilbt, um so kostbarer erschien ihr dieser Brief. Ihre Stimme wurde merklich zittriger und nun war sie krampfhaft bemüht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, um ihre beiden Enkel nicht zu beunruhigen, als sie las:
Meine herzallerliebste beste gute Mutti,
Ich habe Euch auf der anderen Seite einen kleinen Weihnachtsbaum gemalt, der Euch noch einmal meine herzlichsten Grüße und Wünsche zum Weihnachtsfest überbringen soll. Wenn der Weihnachtsabend im Glanz der Lichter so wie der Baum selbst erstrahlen wird, dann will ich hoffen, dass mir die Vorsehung diesen Abend noch bei voller Gesundheit schenkt. Hier ist leider der Tod unser ständiger Begleiter und nur Gott kann uns vom Ärgsten behüten. Der Rundfunk bringt soeben das schöne Lied: „Komm und gib mir Deine Hand…“ Ich darf Dich bitten, dieses Lied in Gedanken an mich spielen zu lassen.
Damit nehme ich inzwischen Abschied bis zur nächsten Nachricht und grüße Euch mit vieltausend Bussis
all Euer guter Vati
Ganz still war es im Raum, als sie den Brief las. Zu oft schon hatte sie damals geweint als Kind. Längst auch hatte sie nach all den Jahren die Hoffnung verloren, etwas über das Schicksal ihres Vaters zu erfahren. So las sie weiter aus den Briefen von der Sehnsucht des Vaters nach der Geborgenheit in der Familie, nach Ruhe und Frieden, nach
seiner Frau und seinen 4 Töchtern. Oft waren die Briefe mit Uhrzeit versehen, so dokumentierten sie die Kämpfe
und Unterbrechungen im Kriegsgeschehen inmitten der Front im fernen Russland.
Krieg von denen beendet zu wissen, die ihn begonnen hatten. Denn die fürchteten wohl, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden von denMenschen, die sie für ihre Ziele missbraucht hatten.
Seinen letzten Brief begann er am 19. 12. 1943 zu schreiben und konnte ihn nach mehreren Unterbrechungen – er hatte es genau datiert – erst am 21. 12., in den Morgenstunden beenden. In seinem Brief versuchte er seinen Lieben daheim verschlüsselt eine Botschaft zu senden, in welcher Gegend inmitten Russlands er im Schützengraben lag. Es war bei Strafe verboten, in Briefen den Standort zu verraten. Anhand von bezifferten Buchstaben von Namen aus dem Bekanntenkreis, die nur der Mutter bekannt waren, wusste Tinas später, dass er zu diesem Zeitpunkt im Raum Nevel bei Witebsk im Schützengraben lag. Diesen seinen Brief musste er wegen „feindlicher Kampfhandlungen“ mehrmals zeitlich unterbrechen, so dass er mehr als 2 Tage und Nächte brauchte, um diesen
seinen letzten Brief zu beenden. Wie nah der Tod täglich war, brachten Sätze zum Ausdruck, wie „….Sobald ich kann, schreibe ich weiter. Vielleicht aber muss meine Post auch mal länger ausbleiben. Macht Euch aber auch dann
keinerlei Sorgen.“
Euer Brief ist eingetroffen. Welch große Freude! Es ist der Brief vom 6. 12. 1943. Ich lese ihn jetzt halb 4 morgens zum 10. Mal. Ich habe die ganze Nacht noch kein Auge zugemacht und jedes Mal, wenn ich einen Moment Zeit hatte, las ich Euren so lieben Brief, für den ich Euch aus übervollem Herzen danke. Wir stehen vor schweren Tagen und so wird es mir durch Eure lieben Zeilen doch um so viel leichter. Wenn ich allerdings die Todesanzeigen von
Hans lese, dann setzt mir bald der Atem aus. Dazu will ich später noch ausführlicher schreiben, d. h. wenn ich dazu
selbst noch in der Lage bin. Heute möchte ich mir nur mit Euren lieben Zeilen beschäftigen. Doch zunächst will
ich versuchen, 2 Stunden zu schlafen, wenn es mir trotz der Kälte gelingt, und dann werde ich noch etwas mehr schreiben. Bis dahin wünsche ich auch Euch eine recht gute Nacht.
Nochmals „Prosit Neujahr!“
Mit viel tausenden süßesten Bussis und den herzlichsten Grüßen bleibe ich stets
Euer guter Vati,
stets dein bester Martin
- Auf baldiges Wiedersehen! -
Dies war die letzte Nachricht, die seine Familie von ihm erhielt….und es war der einzige Brief, unter welchen er dieses „Auf baldiges Wiedersehen!“ geschrieben hatte, so als hätte er eine böse Ahnung und wollte sie mit diesem „Auf Wiedersehen“ vertreiben. Der Stempel der Feldpost auf dem Briefumschlag wies als Datum den 24. 12. 1943 aus. Es war der Tag des Weihnachtsfestes, „Heilig Abend“ also – und es war der Tag, an dem er für seine Lieben daheim für immer unauffindbar blieb…Es war der Tag, von dem er sich wünschte, dass seine Frau daheim am Abend sein Lieblingslied auf dem Schallplattenspieler auflegte, um ihm diesen seinen Wunsch zu erfüllen und ihm so in Gedanken nahe zu sein.
Nachdem seine Briefe ausblieben und die Mutter von Tina damals begann, Nachforschungen voranzutreiben,
erhielt sie im Februar 1944 eine kurze amtliche Mitteilung, dass er nach Kameradenaussagen verwundet und in ein Lazarett eingeliefert worden sei. Sofortige Nachforschungen hätten aber zwischenzeitlich ergeben, dass jedoch keine Mitteilung über seine Lazarettaufnahme vorliegen würde. Man hoffte, er habe sich inzwischen bei seiner Familie gemeldet.
Dienststelle der Feldpost
- Adjutant -
im Osten, 5. 3. 1944
festzustellen, welcher Art die Verwundung war, da der einzige mir noch bekannte Soldat, der mir über den Kampf
ihres Gatten Auskunft geben könnte, inzwischen an seiner Verwundung verstorben ist.
ergebenst Ihr
W. Träger
Oberleutnant und Regiments-Adjutant
Ungläubig hatte sie die erste Nachricht gelesen, mit zitternden Händen umklammerte sie das amtliche Papier. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen verdrängte anfänglich das ganze Ausmaß dieser Nachricht. Es erschien ihr so unwirklich, so unglaublich, kein Außenstehender konnte nachvollziehen, was in ihr vorging. Sie konnte nicht darüber sprechen und sie verdrängte zusehends ihre Ängste vor der Tatsache, vermisst sein kann auch bedeuten, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, ist tot und kehre niemals mehr zurück aus diesem so fernen Russland und dem so sinnlosen und mörderischen Krieg. Zu niemandem durfte sie ihre wirklichen Gedanken äußern. Noch war es gefährlich jemandem seine Gedanken anzuvertrauen. Noch immer war es „Volksverhetzung“, wenn man den Sinn eines Krieges hinterfragte oder ihn gar verurteilte.
Eines Morgens hatte sie einen kleinen mit fast unleserlicher Handschrift beschriebenen Zettel in ihrem Briefkasten gefunden. Irgend jemand hatte darauf gekritzelt:
„Packt was ihr tragen könnt und geht in Richtung Westen! Die Russen kommen! Rette sich, wer kann!“
Sie erschrak, schon lang hatte es im Radio keine konkreten Angaben in den Nachrichten mehr über Truppenbewegungen gegeben, um so erschreckender war der Gedanke, allein mit ihren Kindern nun der Rache derer ausgesetzt zu sein, die einst von den deutschen Truppen überfallen worden waren.
Die Nachbarn zu fragen, was diese zu tun gedenken, wagte sie nicht. Es könnte ihr als „Verrat an Volk und Vaterland“ ausgelegt werden. Mit Irma, ihrer ältesten Tochter gemeinsam beschloss sie, am kommenden Morgen mit einigen Habseligkeiten, die sie tragen konnten, gemeinsam gen Westen zu fliehen.
Als die 3 jüngeren Mädchen schliefen, holte sie mit Irma den alten Kinderwagen und den Babystubenwagen vom Boden, packte darin für jeden Wäsche und Kleidung sowie warme Decken ein. Der stabilere Kinderwagen wurde mit Lebensmitteln beladen. Zu unterst kamen die Kartoffeln hinein, rote Rüben und ein paar Äpfel und Zwiebeln, dem in Gläsern eingekochten Vorrat an Obst und Gemüse folgten ein Streifen Speck, Schmalz, Brot, Zucker und Mehl. Der große und stabile Handwagen wurde mit einer Matraze und Kissen ausgelegt und sollte dem Transport von Hella, Gilla und Tina dienen. Sämtliche Regenschirme wurden ebenfalls seitlich im Handwagen verstaut. Di
Am Morgen wurden allen 4 Mädchen ein Pappschildchen an einem Band um den Hals gehängt, auf dem die Namen, das Geburtstag und die Adresse stand für den Fall, man würde sich auf der Flucht aus den Augen verlieren. Den Mädchen wurde eingeschärft, jedem der fragte, wohin sie „reisen“ wollten, zu sagen, sie fahren zur Tante aufs Land in die Ferien. Tina war zu diesem Zeitpunkt noch keine drei Jahre alt, sie verstand von alledem nichts. Sie wollte lieber zur Oma. Tina wusste nicht, dass Oma in Richtung Osten wohnte, dorthin war eine Flucht undenkbar.
Die Rollläden wurden herunter gelassen, die Wohnungstür verschlossen. Mutter klebte an die Tür ein Schild mit der Aufschrift:
„Wir sind in den Ferien bei Irene!“
Jeder bekam einen Wohnungsschlüssel umgehangen. Der kleine Tross machte sich auf den Weg, unbemerkt von den übrigen Nachbarn des Hauses, so schien es.
Doch sie waren nicht allein auf der Straße in Richtung Westen hinaus aus der Stadt. Es wurden immer mehr, je weiter stadtauswärts man gelangte. Schweigend bildete sich eine kleine Gruppe mit dem gleichen Ziel: Nicht den russischen Truppen in die Hände fallen, nur das nicht! Es waren zumeist nur Frauen und Kinder und ein paar sehr alte Männer, die sich auf den beschwerlichen Weg mit ein paar ihrer Habseligkeiten machten. Die Frauen trugen ihre Kopftücher weit ins Gesicht gezogen, so als wollten sie nicht
erkannt werden. Kinder weinten und nur langsam bewegte sich der gespenstische Zug in der Morgendämmerung aus der Stadt hinaus.
Die Mutter zog den Handwagen, in dem vorerst nur Tina saß und schob den schwerbeladenen Kinderwagen vor sich her. Irma und die beiden Schwestern schoben gemeinsam den mit Kleidung und Decken bepackten Stubenwagen. Dessen Räder eierten bedenklich, für eine Fahrt über holprige Wege war er nicht geeignet. Es dauerte auch nicht lang, dann waren die Schrauben der Räder so locker, dass diese plötzlich selbständig davonrollten. Die Mädchen mussten sie zurückholen und Mutter steckte die Räder wieder auf. Während der Fahrt hatten die Mädchen nun darauf zu achten, mit den kleinen Füßen dagegen zu schlagen, bevor die Schrauben sich wieder lockerten. Das gelang nur einige Male, dann hielten die Schrauben nicht mehr im Holz. Zum Tragen war der Korb zu schwer, also musste Tina aus dem Handwagen aussteigen und da hinein kam der Korbwagen. Das Gestell samt der Räder blieb am Straßenrand zurück. Tina quengelte nach einer kurzen Strecke und wurde müde. Die Mutter nahm für jedes der Mädchen eine Decke aus dem Korb und machte eine Rolle daraus, diese trugen sie nun über den Schultern. Der gewonnene Platz im Korbwagen wurde mit Tina ausgefüllt, die sofort erschöpft einschlief. Als sie wieder erwachte, war sie daheim. Deshalb wohl konnte sich Tina später an diesen Fluchtversuch nicht mehr erinnern. Denn nachdem nacheinander Gilla und Hella ebenfalls müde des Laufens wurden und Irma erschöpft vom Schieben des Leiterwagens immer mehr Pausen einlegen wollten, hatten sie mit Mutter noch vor Einbruch der Dunkelheit die Rückkehr nach Hause beschlossen.
Am Morgen darauf herrschte Stillschweigen beim Frühstück. Irgendwann sagte Mutter energisch: „Wir bleiben daheim, wo soll uns der Vati sonst finden, wenn er zurück kommt.....!“
Wenige Tage danach kam das so lang ersehnte Ende des Krieges. Nicht weit vor der Stadt lagen bereits die russischen Truppen. Wieder fand Mutter einen kleinen Zettel von Unbekannt in ihrem Briefkasten, diesmal stand in großer Schrift:
„HÄNGT BETTLAKEN AUS DEN FENSTERN!“
Die kleine Stadt Döbeln, in der sie lebten, blieb dadurch verschont vom Beschuss durch die Russen. Ein mutiger Mann war ihnen entgegen gegangen in dieser Schicksalsstunde der Stadt und hatte den Siegertruppen zu erklären versucht, dass sich die Stadt kampflos ergeben würde, ohne dass Widerstand geleistet wird. Er hatte zuvor diese Handzettel wegen der Bettlaken verbreitet und die Bewohner der Stadt aufgefordert, keine Kampfhandlungen mehr durchzuführen. Auch Tinas Mutter hing weiße Bettlaken aus den Fenstern, durch die wenige Stunden danach die russischen Panzer in die Stadt rollten. Der mutige Mann hatte die Stadt gerettet und so blieb sie vor Kriegsschäden bewahrt.
Schreckens, den dieser Krieg verbreitet hatte. Noch immer erfuhr man täglich von Verschleppung und
Erschießungen, man misstraute dem Nachbarn. Nur im engsten vertrauten Familienkreis und mit wenigen Freunden unterhielt man sich über das, was durch diesen Krieg für Elend über sie hereingebrochen war. Noch wusste man
nicht viel über die Millionen Toten, die Bluttaten und Ausrottungen, und als nach und nach im Lautsprecher des Radios bekannt gegeben wurde, was an Leid über fremde Völker hereingebrochen war durch die Schuld Deutschlands, war es unfassbar, so unvorstellbar Grausames wurde täglich berichtet.
Als Tina an diesem Abend ihre Erzählung schloss, wusste sie noch nicht, dass es auch für sie selbst noch nicht abgeschlossen war, diese Suche nach einem Menschen, den sie nicht kannte, und der ihr dennoch so nahe stand, ihr so viel bedeutete und ihr so sehr gefehlt hatte in all den Jahren, besonders in ihrer Kindheit.
Eines Morgens hörte sie im Radio eine Nachricht: „Russland hat seine Kriegs-Archive geöffnet und
Nachforschungen nach dem Schicksal in Russland vermisster deutscher Soldaten werden dadurch möglich…“ Das nach dem Krieg geteilte Deutschland war längst - nicht zuletzt durch den Willen eines verzweifelten Teiles des deutschen Volkes – unter Duldung der politischen Macht im fernen Russland wieder vereint. Ihre beiden Enkel
wuchsen in dieses wiedervereinte Deutschland hinein. Sie wussten noch nicht viel von der „Mauer“, die so viele Jahre nach Kriegsende mitten durch Deutschland gegangen war und die die Menschen, ja sogar Familien, über Jahre hinweg wieder voneinander getrennt hatte. Diese Grenze hatte Deutschland in zwei Teile getrennt und hatte so beide Teile Deutschlands zwangsweise ganz unterschiedliche Entwicklungen nehmen lassen. Diese Mauer war nun endlich ein Relikt der Vergangenheit, es war ein Relikt des kalten Krieges geworden – und zugleich auch ein Akt der demonstrierten Macht derer, gegen die Deutschland einst einen verbrecherischen Krieg entfacht hatte.
„Wir teilen Ihnen mit, dass Ihr Vater hier letztmalig mit seiner Verwundung – Infanteriegeschoss linkes Bein – am 24. 12. 1943 in Mal. Komkira, 25 Kilometer nordwestlich von Witebsk/UdSSR, verzeichnet ist. Eine Vermissten- oder Todesmeldung bzw. Erkenntnisse über den weiteren Verbleib Ihres Vaters haben uns nicht erreicht."
Akribisch begann sie zu recherchieren. Der Onkel hatte einst bei einer Versicherung gearbeitet. Ihr Vati war
gelernter Versicherungskaufmann und hatte vor dem Krieg in seinem Beruf schon viel erreicht. Er war zuletzt Leiter der Geschäftsstelle in Z. Sollte er…? Es ließ ihr keine Ruhe mehr. Doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte…wie ihn ausfindig machen, falls an der Geschichte des Onkels von einst etwas wahr sein sollte. Und dass
etwas Wahres dran sei, erschien ihr nun immer glaubhafter. Woher sollte der Onkel sonst gewusst haben von einer Kriegsverletzung ihres Vaters am linken Bein. Er konnte es nur von ihrem Vater erfahren haben. Sie wollte es
glauben. Es war eine Hoffnung, an die sie sich klammerte.
Sie begann Kontakt aufzunehmen mit der Versicherungsgesellschaft, in der einst ihr Onkel gearbeitet hatte und wo er Tinas Vater begegnet sei. Man erinnerte sich an ihren Onkel und das sogar sehr lebhaft. Er sei ein lebenslustiger
Bursche gewesen, voller verrückter Einfälle und ein fabelhafter Erzähler, wobei die Grenzen zwischen Phantasie und Wahrheit bei ihm nie hätten ganz klar gezogen werden können. Das wusste sie schon durch die eigenen Kindheitserinnerungen an ihn und lockte ein Lächeln in ihr hervor. Doch wie sollte sie nach ihrem Vater fragen, wenn er doch den Namen seiner Lebenspartnerin angenommen hatte, der ihr jedoch unbekannt war.
Die Presse fiel ihr ein. Nichts wollte sie unversucht lassen. Sofort nahm sie Verbindung auf zur Presse an dem Ort,
an welchem er vielleicht nach Kriegsende gelebt und gearbeitet hatte, falls nur ein winziges Körnchen Wahrheit an der Erzählung des Onkels war.
hatte, um seinen dort von Kameraden zuletzt lebend gesehenen Vater oder sein Grab ausfindig zu machen. Ohne Wissen seiner Mutter hatte er sich auf den abenteuerlichen Weg gemacht. Und er fand eine Spur. Er hatte das Grab seines Vaters ausfindig gemacht und traurig und resigniert von ihm endgültig Abschied genommen. In den Wirren des Krieges war die Nachricht von seinem Tod nicht bis zu seiner Familie vorgedrungen, hatte sinnlose Hoffnungen weiter leben lassen und viele Jahre später erst Gewissheit über seinen Tod gebracht.
Und so erschien in der Presse neben einem ausführlichen leidenschaftlichen Bericht des Reporters über die Suche Tinas nach ihrem Vater auch ihr Brief an ihn:
seit Monaten habe ich die Hoffnung, dass Du den Krieg, trotz einer anders lautenden Nachricht aus dem Jahr 1944, überlebt hast. Deine Kinder Irma, Hella, Gilla und Tina haben Dich nie vergessen. Gilla starb inzwischen.
Bitte melde Dich, wenn Du es so wie ich möchtest, vielleicht mit dem Namen Deiner Mutter oder nenne Deine beiden richtigen Vornamen. Hinterlasse bitte wenigstens eine Nachricht bei der Redaktion. Vielleicht möchtest Du mich sehen?
Deine Tochter Tina“
Fotos ihrer Schwestern und von sich selbst als Kinder noch, auf denen ihr Vati sie hätte erkennen können, erschienen neben dem Zeitungsartikel.
Tage bangen und hoffnungsvollen Wartens verstrichen. Würde er diesen Artikel überhaupt lesen? Oder abonnierte
er eine ganz andere Zeitung?
nur an die Namen von 2 Männern konnte sich keiner mehr der noch Lebenden erinnern. Der eine davon war der, von dem sie glaubte, nur dieser könnte ihr Vater sein.
noch lebt, weiß ich nicht, er hieß jedenfalls Peter B., er lebt noch, er wohnt in S. – da bin ich ganz sicher.“ Sie war wie versteinert, als sie auflegte. War sie am Ziel? Hatte sie endlich ihren Vater gefunden? Die betreffende Telefonnummer stand schon auf ihrem Zettel und so rief sie an.
meldete sich eine angenehm warm klingende Männerstimme. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt.
„Ja, Herr B. am Apparat, um was geht es?“
„Bitte, verzeihen Sie mir, dass ich Sie so spät am Abend noch anrufe! Ihre Telefonnummer habe ich durch die
Auskunft erfahren. Ich möchte Sie gern etwas fragen, weiß aber nicht recht, womit ich anfangen soll!“
„Fragen Sie ruhig, junge Frau, wenn ich Ihnen helfen kann, werde ich es tun!“
Wieder lauschte der Stimme, sie empfand sie warmherzig und zuvorkommend. Sie wurde ruhiger.
"Ich bin auf der Suche nach meinem Vater. Er gilt seit dem Krieg in Russland als vermisst. Er hieß Martin H. – sagt Ihnen dieser Name etwas?“ Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ein „Ja!“ und erwartete zugleich auch das Ende all ihrer Illusionen.
Stille am anderen Ende der Leitung….dann: „Nein, ich erinnere mich nicht, ich war während des Krieges in Russland, ja, ich geriet in Gefangenschaft, aber wie kommen Sie auf mich?“
„Es existiert ein Foto, auf dem Sie mit weiteren Männern abgebildet sind, jemand sagte mir, dass Sie es sind, den ich suche…“ antwortete sie fast atemlos.
„Ja, wen suchen Sie denn?“ fragte er.
„Ich suche meinen Vater!“ Ihr drohte fast die Stimme zu versagen…
„Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?“ Es entstand eine Pause. „Oder glauben Sie, ich sei Ihr Vater?“
„Ja,…!“
„Oh nein, ich habe keine Kinder, junge Frau! Ich kann also nicht Ihr Vater sein, es tut mir leid, aber wie kommen Sie nur darauf?“
„Wegen dem Foto, ich habe ein Foto und jemand sagte mir, sie seien der, den ich suche. Bitte, sagen Sie mir, gehen Sie am Stock, weil sie eine Kriegsverletzung am Bein haben?“
„Nein, ich habe keine Kriegsverletzung am Bein! Da liegt wohl ein Irrtum vor, es tut mir sehr leid, dass ich ihnen nicht helfen kann. Bitte schicken Sie mir das Foto, vielleicht kann ich den Irrtum so aufklären.“
Sie weinte, die Tränen rannen und sie konnte nicht sprechen…wieder war ihre Kehle wie zugeschnürt
Er sprach beruhigend auf sie ein: „Ich kann Sie gut verstehen, junge Frau, auch ich habe einen mir nahe stehenden Menschen durch den Krieg verloren. Bis vor wenigen Jahren suchte ich nach meinem vermissten Bruder – inzwischen habe ich die Hoffnung aufgegeben, etwas über sein Schicksal zu erfahren. So wie Ihnen und mir geht es wohl vielen Menschen – ich weiß, das ist kein Trost, ich will nur sagen, dass ich Sie gut verstehen kann…Aber ihr Vater bin ich nicht.“
mehr, sie nahm nur den warmherzigen Tonfall wahr.
Doch es nützte nicht viel – anhand des Fotos klärte er sie später auf, welcher der Männer auf diesem Foto er selbst sei und dass er sich zwar an den von ihr auf dem Foto bezeichneten Mann, aber leider nicht an dessen Namen erinnern könne.
Lebenden auf dem Foto auf. Wieder versuchte sie, die noch Lebenden von dem Foto anzurufen.
reagierte Tina, als diese Frau erklärte, sie habe diesen Mann noch vor wenigen Wochen zufällig in einer Tiefgarage getroffen. Doch auch sie konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern.
anderen Namen trug und Kinder geboren hatte, die nicht seine Kinder waren. Und er hat sich ein neues Leben aufgebaut. Vielleicht…
Sie hatte kein Recht, ihm auch dieses zweite Leben zu nehmen, falls er tatsächlich noch lebte. Sie beschloss, nicht mehr nach ihm zu suchen. Sie zwang sich zur inneren Ruhe und der Einsicht, dass es zu spät war.
Die schönsten Mannesjahre hatte ihm der Krieg gestohlen, seinen Kindern ein liebevoller Vater zu sein. Seine Töchter heranwachsen zu sehen war ihm versagt geblieben, und die Freuden eines Großvaters an seinen Enkeln und nun gar an Urenkeln, all das hatte ihm der Krieg geraubt. Leid und Schrecken, Todesangst hatte er stattdessen als ständigen Begleiter, Entbehrungen unter extremsten Bedingungen vielleicht in der Gefangenschaft, Hunger und Krankheit...vielleicht hatte er während des Krieges Schuld auf sich geladen. Wenn er dies alles wirklich überlebt haben sollte, so hatte er vielleicht inzwischen seinen Seelenfrieden in seinem „neuen“ Leben gefunden. So hoffte sie…
Inzwischen sind die Wunden von damals vernarbt. Und trotzdem brennen sie manchmal noch. Vielleicht kehrte er tatsächlich irgendwann zurück aus diesem unseligen Krieg, vielleicht aber kam er darin um. Niemand mehr wird es je erfahren. Niemand fragt mehr, wer Schuld hat, dass Familien nicht mehr zusammen fanden, wenn der Vater als vermisst galt. Niemand fragt mehr, wo die letzte Ruhestätte so vieler Menschen fern der Heimat und der Angehörigen ist.
Es war der Krieg, der von deutschem Boden aus ging. Der schlimmste und verbrecherischste Krieg in der Geschichte der Menschheit.
Tina dachte an die Frage ihrer Enkel: „Omi, aber die Erwachsenen sind doch schon groß, warum wissen sie das nicht, dass sie sich friedlich einigen müssen?“
Gebet
mein Herz ist ganz rein,
soll niemand drin wohnen,
als Vati allein!“
Das Gebet sandte ich
einst zu tauben Ohren.
Am GLEICHEN Tag,
als der Heiland geboren,
hab ich im Krieg
meinen Vater verloren.
Der Herr hat's gegeben,
der Herr hat's genommen,
NIE hab ich schlimmere
Botschaft vernommen.
Ich hab so gebeten,
ich war noch so klein.
Warum ließ der Herrgott
den Vater nicht heim?
Wer hat solche Untat erlaubt,
die wehrlosen Kindern den Vater raubt?
Wer ist die unheilige Macht,
die Hass in den Herzen entfacht
und den Menschen raubt den Verstand
im Kampf für Gott und das Vaterland?
Warum muss es immer noch
Kriege geben?
Warum kann die Menschheit
in Frieden nicht leben?
Wer treibt uns –
im Hintergrund unerkannt,
für den falschen Begriff
vom „Vaterland“?
Wir ALLE sind klein,
unsre Herzen sind rein!
Darf in ihnen wohnen
nicht Friede allein?!
Am Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945, des unheilvollsten Krieges, der von deutschem Boden ausging, begann nun auch für die Überlebenden auf beiden Seiten eine jahrelange Zeit der Not und Entbehrungen, des Leides und der Hoffnungslosigkeit. Ein unvorstellbar schweres Los hatten auch die Kriegsgefangenen zu tragen. Doch ihr Schicksal blieb viele Jahre unbekannt, zum großen Teil auch bewusst verschwiegen, denn schließlich waren deutsche Kriegsgefangene „mitschuldig“ an diesem verbrecherischen Krieg. Doch wer vermag schon nach Ende eines Krieges die Schuld den Soldaten zuschreiben, die ihr Leben sinnlos opferten oder in Kriegsgefangenschaft
unermessliches Leid noch in Friedenszeiten erduldeten. Es sollte wohl durch ihre Mitschuld am Krieg kein Mitleiden für sie erzeugt werden und so blieb ihr Schicksal Jahrzehntelang im DunkelN:
Wer schon fragte, ob sie eine Alternative gehabt hätten, als Soldaten in den Krieg zu ziehen. Wer fragte nach dem Leid der Hinterbliebenen, wer nach den Kindern, die den Vater vermissten, wer fragt nach den Müttern, die ihre Söhne in Liebe geboren einem Frevel gleich opfern mussten, und wer fragte nach den Opfern auf der Seite derer, die den Krieg einst begannen. Sie waren und blieben allesamt die „Schuldigen“. Und sie trugen Schuld, unzweifelhaft. Noch nach Kriegsende kamen auf beiden Seiten Millionen durch Hunger und Krankheiten um, lebten unter unmenschlichen Bedingungen immer in der Hoffnung, irgendwann zu ihren Familien zurückkehren zu können. Viele überlebten die Gefangenschaft nicht. Und viele von jenen, die die Rückkehr erlebten, konnten dennoch nicht mehr in ihre Familien zurück, weil es diese so nicht mehr gab. In den Vernichtungslagern der Deutschen war eine Maschinerie zur Vernichtung von Menschen durch Menschen während dieses Krieges errichtet worden, die durch keine Sühne ungeschehen oder entschuldbar wird.
Die vorliegende Geschichte soll einen Blick ohne Verurteilung, ohne Wertung von Schuld sein in der Hoffnung, so auch Einsicht zu ermöglichen in die Tragweite eines Krieges bis hin zu mehreren Generationen. Dieser Erlebnisbericht soll eine Anregung sein für die Sicht der nachgeborenen Kinder auf einen Krieg, an dem sie keine Schuld tragen.